Zuhause lauert die Vergangenheit

Du warst hier. Nach so langer Zeit bist du endlich für ein paar Tage zurückgekommen, nach Hause. Ich konnte dich umarmen und so viel reden, mit dir, meinem kleiner Bruder. Aber wen habe ich gesehen? Wer kam mir auf dem Bahnhof lachend entgegen? Und wen habe ich nun wieder gehen lassen?

Du hattest Angst nach Hause zu kommen. Erinnerungen und Enttäuschungen hielten dich bisher fern. Jahrzehnte hast du versucht, zu verdrängen und bist die ganze Zeit vor der Konfrontation mit deiner Vergangenheit geflohen. Aber weißt du, dem kannst du nicht entfliehen. Genauso wenig, wie ich es kann.

Du warst damals ein Teenager, als unsere Mutter tot im Wohnzimmer lag. Du hast sie gefunden und konntest nichts mehr für sie tun. Der Gerichtsmediziner erzählte mir später, dass ihr niemand mehr hätte helfen können. Sie ist im Alkohol ertrunken. Diese jahrelange Sucht hat sich an jenem Abend im Februar vor über 20 Jahren gerächt.

Zu diesem Zeitpunkt war ich, als Älteste, schon lange weg. Ich war gegangen, ohne mich nach meinen drei Geschwistern umzudrehen. Aber glaube mir, wäre ich nicht geflohen, hätte mich dieser Sumpf verschlungen. Ich musste mich selber schützen und retten. Ich habe verdammt oft an euch gedacht und mir gewünscht, dass ihr dort wegkommt. Aber so viele Menschen haben zugesehen und geschwiegen, obwohl sie alle wussten, was dort in unserem Zuhause passierte. Ich hatte keine Verbündeten und war ja selber noch so jung.

Du kannst dir nicht vorstellen, wie oft ich immer wieder diese Nacht erlebe, in der du als Vierjähriger weinend im Wohnzimmer unserer Eltern standest, eingehüllt in eine Wolke aus dichtem Zigarettenqualm und dem widerlichen Gestank aus den Schnapsflaschen. Die Musik war so laut, aber ihr Geschrei und das Klatschen der Schläge aufeinander noch so viel lauter. Und dazwischen standest mitten in dieser Nacht du, dieser kleine Junge, und riefst immer wieder weinend: „Hört auf euch zu hauen!“ Sie haben dich weder gesehen noch gehört. Aber ich habe dich gehört und kam, um dich auf dem Arm wieder in dein Bett zu bringen. Weißt du eigentlich, dass ich auch geweint habe und Angst hatte? Ich hatte immer Angst, wenn sie betrunken waren und sich schlugen. Angst, dass irgendwann eine solche Schlägerei für einen von beiden schlimm ausgehen könnte. Wir waren doch noch Kinder und brauchten Eltern. Und wir waren mit ihnen allein. Niemand war da, der uns half.

Irgendwann, nach dem Tod unserer Eltern, bist du von hier weggegangen und hast begonnen, dein eigenes Leben zu leben. Ich wusste nicht genau, wo du bist und hörte nur davon, dass du Wege gingst, die nicht gut für dich waren. Du bist tief gefallen und ich konnte dir auch dabei nicht aufhelfen. Das tut mir leid, Kleiner. Glaub mir, ich habe mir in all den vielen Jahren so oft selber Vorwürfe gemacht, dass ich meine kleinen Geschwister nicht retten konnte. Ich habe mir die Schuld an eurem späteren Fallen gegeben und mich immer wieder gefragt, ob euer Leben anders verlaufen wäre, wenn ich nur irgendetwas getan hätte.

Nun warst du hier und hast deine große Schwester, die dich damals scheinbar rücksichtslos zurückließ, umarmt. Du hast mir mit deinen lieben Worten nach so vielen Jahren diese wahnsinnige Schuld genommen. Ich danke dir dafür.

Und schau uns an, kleiner Bruder. Wir können trotz allem was wir erfahren mussten, noch lachen und wir haben Spaß am Leben. Niemand fragt, warum wir sind, wie wir sind. Und niemand weiß von unseren gemeinsamen Wunden, keinen interessieren sie und keiner sieht deren Narben, die geblieben sind. So, wie auch damals niemand etwas gesehen hat. Aber, wir können die Vergangenheit nicht mehr ändern. Wir haben gelernt, damit zu leben, was sie aus uns gemacht hat und wir dürfen nicht zulassen, dass sie auch uns Geschwister alle voneinander trennt. So einen Triumph sollten wir dieser Vergangenheit nicht gönnen.

Als du mir auf dem Bahnhof entgegen kamst und auch, als ich dich nun wieder verabschieden musste, umarmte ich nicht den erwachsenen Mann. Nein, ich drückte den Vierjährigen, der Dinge sah, die er nicht sehen sollte, der Worte hörte, die er nicht hätte hören sollen und der nachts zitternd in der Hölle stand und so laut nach Liebe schrie.

Ich habe dich weinend gehört, Kleiner…

… damals und auch heute.

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