Geküsst und aufgewacht

Heute sagte jemand lachend und kopfschüttelnd zu mir: „Du hast aber auch verrückte Einfälle. Du schläfst nachts auf dem Balkon. Du lässt dir deinen kleinen Polo zu einem Mini-Camper umbauen. Du fährst mit Mitte Fünfzig nur mit Fahrrad und Zelt planlos an der Ostsee lang.“ Ja. All das tue ich. Weißt du auch warum? Ich wurde geküsst. Das Leben hat mich ungefragt in den Arm genommen und auf die Stirn geküsst. In Form von weißen Kitteln in Arztpraxen hat es mich mit seinem Kuss daran erinnert, dass ich endlich bin. Diese Umarmung und das Geknutsche taten einen Moment weh. Seit der Schmerz und auch die Erinnerung allerdings dort angekommen sind, wo sie gefühlt werden müssen und die Umarmung sich löst, befinde ich mich auf einer riesigen Wiese. Keine Richtungspfeile, keine Zäune und keine Verbotsschilder wurden hier aufgestellt. Ich bin frei in einer Welt, die mich doch vehement im Denken und Handeln gängeln und führen will. Ich habe sie ausgeschaltet und folge nur noch neugierig dem Navi, welches in meiner Brust schlägt.

All der Schnickschnack, der mir mein Leben lang als wichtig und unverzichtbar durch andere Menschen oder Medien wie eine Möhre vor die Nase gehalten wurde, hat seine Wichtigkeit verloren. Der leichte Wind, der mir nachts beim Schlafen auf dem Balkon sanft um die Nase weht, sind wie Streicheleinheiten vom Leben. Dieses kleine Auto mit seiner Matratze im Innenraum soll mir die Freiheit geben, an Orten zu verweilen, wo ich mich aufgehoben und gut fühle, ohne auf teure Massenunterkünfte angewiesen zu sein. Ebenso ließ mich die Tour mit dem Rad meine Unabhängigkeit spüren. Einfach mal dort zu bleiben, wo der Sonnenuntergang am Meer traumhaft war oder nach Sonnenaufgang weiterzufahren, wenn es mich weiterzog, fühlte sich unglaublich lebendig an. Die Schmerzen alternden Knochen beim Hinein- oder Herauskrabbeln aus dem Zelt gehörten zu dieser Lebendigkeit einfach dazu. 

Zudem habe ich (allerdings vor längerer Zeit schon) aufgehört, mich über meinen Job zu definieren. Na klar muss ich arbeiten, um den Bäcker an der Ecke und meinen Vermieter bezahlen zu können. Aber ich lebe nicht für den Schreibtisch, an dem ich 40 Stunden in der Woche sitze. Ein Großteil meiner Kollegen zählt die Monate, Wochen und Tage bis zu Ihrem dreiwöchigen Jahresurlaub. In der Zwischenzeit durchlaufen sie täglich das Rad der Routine: Arbeiten, Einkaufen, Wohnung putzen, allabendliches Fernsehprogramm. Aus dieser Nummer bin ich ausgestiegen. Vor 8 Uhr morgens und nach 16.30 Uhr (einschließlich der Nächte) ist so viel möglich. Ich kann täglich einen kleinen Urlaub zelebrieren, seitdem ich meine Prioritäten verschoben habe. Da ist so viel Zeit zum Leben, so viel Spielraum für Ideen. Egal, was mir einfällt, die Hauptsache ist doch nur, dass ich um 8 Uhr wieder im Büro erscheine.

Ja, ich wurde erinnert, dass ich ein Geschenk erhalten habe. Mein Leben. Dieses ist nun mal nicht unendlich. Und gerade deshalb habe ich nichts zu verlieren. Vielleicht sind wir nie wirklich frei in dieser Welt und ihren Systemen. Aber unser Geist ist frei, unser Herz mit seinen Wünschen und Träumen ist frei. Auch unsere Ideen und unser Wachstum lassen sich nicht einsperren. All das will raus und gefüttert werden, statt in alten Mustern und Konditionierungen ungelebt zu verhungern. Auch ich habe viele Jahrzehnte geglaubt, dass dieser Lebenshunger durch konsumgesteuerte Ablenkung und tadellos angepasstes Verhalten gestillt werden kann. Es war ein Irrtum. Das wirkliche Leben ist damit nicht zu spüren. Meine Wertvorstellungen haben sich gewandelt. Es sind heute Momente, die ich mir selbst schaffe und ganz wenige Menschen, die so wahnsinnig kostbar und wertvoll für mich sind, dass ich sie schütze und diesen Reichtum ganz tief sicher in mir aufbewahre.  

Vielleicht wirkt es auf einige tatsächlich verrückt, wenn man mit Mitte Fünfzig anfängt, seine Träume (in Einfachheit) zu leben. Vielleicht erntet man Empörung, wenn man sich frei und leicht an einer grauen Masse vorbeischlängelt. Aber es geht nicht mehr um die Masse. Es geht um mich. Es geht darum, was mich antreibt, was und wen ich aus tiefstem Herzen liebe. Es geht um das, was mich mit Glück flutet.

Dennoch… Egal, wie frei und selbstbestimmt ich über diese große Wiese der Möglichkeiten tanze, es gibt es eine Sehnsucht, die mir an manchen Tagen die Seele so sehr zuschnürt, dass es schmerzt.  Diese Sehnsucht ist vielleicht der Preis, den mal zahlen muss, wenn man sich für ein andersartiges Leben entschieden hat. Aber dafür würde dieser Beitrag nun zu lang werden. Ich werde darüber also im nächsten schreiben.

Übrigens, dieser Mensch, der heute über meine „verrückten Einfälle“ lachte, schenkte mir dann ein ungenutztes Campingbett, damit ich mich zum Schlafen auf dem Balkon nicht mehr mit meinen schmerzenden Knochen auf eine niedrige Matratze hinunter und wieder hoch quälen muss.

Vielleicht bin ich doch gar nicht so verrückt.

2 Antworten auf „Geküsst und aufgewacht“

  1. Ja, man schätzt das Leben oft viel zu wenig, bis einem irgendwann schmerzlich bewußt wird, das einem davon nicht mehr viel bleibt. Und man endlich was draus machen solle, egal was andere denken.

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