Das lebendige Kind

Es war Ende August und der Himmel grau mit Wolken verhangen. Der Ostseestrand war bei diesem Wetter ziemlich leer und die letzten Urlauber spazierten bereits mit Jacken am Wasser entlang. Ich ging wadentief durch die Wellen und mit mir dieses dreijährige Mädchen. Zunächst war auch sie sehr vorsichtig, um die hochgekrempelten Hosen nicht nass zu machen. Doch dann wurde sie schneller und das Wasser spritzte gegen ihre Sachen. Also zog die Mutti sie aus. Nun hüpfte diese kleine Maus lachend und kreischend splitternackt wie ein Gummiball durch das Meer. Der raue Wind schien ihr überhaupt nichts auszumachen. Wir begannen, uns im Wasser zu jagen, bis auch mein Kleid pitschnass war.

Ich blieb plötzlich stehen und schaute auf das Wasser hinaus. Wie verabredet hielt auch die Kleine im selben Moment inne. Sie breitete die Arme komplett aus, legte den Kopf leicht in den Nacken und schloss die Augen. Ich schaute wortlos zu ihr hinüber und betrachtete fasziniert ihre Gestik. Und dann sah ich mich. Es schien, als wäre dieses kleine Kind soeben aus meinem Körper herausgetreten und hätte sich stillschweigend ca. eineinhalb Meter neben mich gestellt. So standen wir nun beide in den Wellen, die Dreijährige und die ein halbes Jahrhundert ältere Frau, unsere Gesichter gleichzeitig zum Horizont gerichtet. Wir taten das Selbe. Wir spürten in den Wind hinein, fühlten die Kraft des Wassers an unseren Beinen und saugten die salzige Luft ein.

Was ich gerade regungslos lediglich in Gedanken tat, zeigte dieses Kind mit seinen geschlossenen Augen und den weit ausgebreiteten Armen in voller Deutlichkeit: Hingabe, Vertrauen und Verbundenheit. Das Mädchen zeigte mir, mich selbst, meine Lebendigkeit. Oh man, ich war doch so lebendig. Sie erinnerte mich an meine Sensibilität, meine Spontanität, meinen ganz eigenen Irrsinn, aber auch an meinen Mut und meine Kraft, meine unbändige Lebensfreude. Als sie ihr Gesicht mir zudrehte und mich anlachte, schien das Mädchen (in mir) zu sagen: Schau, selbst wenn du nackt und nass im kalten Wind stehst, wird dir nichts passieren. Er streichelt dich nur.

Kurze Zeit später, die Kleine war bereits wieder angezogen, saß ich im Sand und beobachtete sie weiter. Kein Konvolut aus Eimern, Schaufel oder anderen Gerätschaften war nötig. Sie formte mit ihren Händen zwei Furchen im Sand. „Für meine Beine.“ kommentierte sie leise für sich selbst. Dann schob sie ihr „Kopfkissen“ zurecht. Anschließend legte sie sich auf ihr „Bett“. Wieder breitete sie die Arme aus und schloss die Augen. Ich wusste, dass sie, wie ich, jetzt den weichen Sand spürte und dem Rauschen der Wellen lauschte. Wir waren beide gerade so wahnsinnig lebendig, weil wir intensiv fühlten und wahrnahmen. Es gab nur diesen Augenblick. Kein Gestern und kein Nachher. Wir verweilten in unglaublicher Präsenz mit dem, was uns gerade umgab. Und es war wunderschön, als dazu plötzlich der Himmel aufriss und die Sonne sich daran tat, unsere nasse Haut zu trocknen.

Dieser graue Nachmittag an einem Ostseestrand wurde für mich pure Magie. Ein großer und ein kleiner Mensch, mit fünf Jahrzehnten Lebenszeit Unterschied, waren sich und dem, was sie wahrnahmen, so nah gewesen, ohne sich berührt zu haben. Und doch wurde ich davon ganz tief berührt. Wenn wir Kinder nicht korrigieren, kommentieren oder zurechtweisen, sondern sie nur beobachten, nehmen sie uns lachend mit, zurück zu uns. Welch Berührung!

Am Ende des Tages küsste ich das Würmchen auf die Stirn und flüsterte ihr ins Ohr: „Oma hat dich ganz doll lieb.“ Wie viel mehr hätte ich gerne gesagt?! Nun ja, vielleicht später einmal, wenn sie es besser versteht.

Ich küsste an diesem Abend jedoch nicht nur mein Enkelkind. Ich umarmte und küsste dankbar das Leben.

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