Entscheidungsfrust

Wir müssen oftmals im Leben Entscheidungen treffen, die uns schwer fallen, welche uns jedoch niemand abnehmen kann. Manchmal sind von unseren ganz eigenen Entscheidungen sogar andere Menschen mitbetroffen. Gewollt oder ungewollt.

Vor über einem Jahr habe ich mich auf die Warteliste für eine Wohnung setzen lassen. Sie sollte viel mehr Tageslicht erfassen, als meine derzeitige Erdgeschosswohnung mit den großen Tannen vor dem Balkon. Von ihr aus, könnte ich über die Dächer der umstehenden Häuser schauen. Zu den Vögeln bräuchte ich nicht mehr hinauf sehen, denn sie würden auf Augenhöhe mit mir sein, wenn ich am Fenster stünde. Durch die Südwestlage der beiden Zimmer könnte ich zig traumhafte Sonnenuntergänge im wahrsten Sinne anhimmeln. Meine gesundheitlichen Einschränkungen fänden durch einen vorhandenen Fahrstuhl Beachtung. Ein Jahr lang habe ich so oft diese Wohnung eingerichtet. Der Raum für meine Kleider stand schon fest und mein Schreibtisch, an dem ich so viel schreibe, war gedanklich bereits vor einem der Fenster platziert.

Nun kam die lang ersehnte E-Mail der Vermieterin. Ein Angebot für die perfekte Wohnung, in der richtigen Etage. Zum absolut falschen Zeitpunkt!

In diesem Haus wohnt ein Teil Vergangenheit, die sie vor einigen Monaten noch nicht war. In der über mir angebotenen Wohnung durfte ich großartige sowie auch schwierige Zeiten erleben. Ich habe dort einst viel gelacht, aber auch bitterlich geweint. Wie wird es mir ergehen, wenn ich nun wieder täglich damit konfrontiert werde? Was werde ich fühlen, wenn der andere so nah und doch nicht mehr für mich erreichbar ist? Könnte ich es aushalten, in diesem Haus all der damaligen Freude, aber auch den Verletzungen und dem Schmerz nochmals zu begegnen? Werde ich in einer Wohnung glücklich, wenn ständig die Angst, dem anderen im Fahrstuhl begegnen zu können, mit mir dort einzieht?

Einen Tag und eine Nacht kämpfte ich mit mir. Dabei schloss ich diesen anderen Menschen natürlich auch in meine Überlegungen mit ein. Wie würde er sich denn dabei fühlen, mich eine Etage unter sich zu wissen? Sollte ich seine Befindlichkeiten einfach ignorieren und durch meine Anwesenheit, sein Zuhause, welches er so liebt, mit Unbehagen fluten? Er hatte unsere Verbindung gekappt. Mit meinem Einzug in diese Wohnung würde ich ungefragt wieder eine solche herstellen. Wir wären durch unser Leben in dem selben Haus wieder miteinander verbunden. War es richtig oder unnötig, mich auch diesen Fragen zu stellen? Ich musste mein Gedankenkarussell anhalten.

Denn, egal, ob ich an mich oder an ihn dachte. Beides fühlte sich irgendwie nicht gut an. Ein verdammt langes Jahr hatte ich mich so sehr auf den Tag gefreut, an dem eine Wohnung für mich frei werden würde. Nun war sie frei für mich, aber ich emotional nicht für sie.

Ja, ich habe alles sorgfältig abgewägt und der Vermieterin letztendlich abgesagt. Vielleicht sieht es manchmal aus, als ob wir uns mit unseren Entscheidungen gegen etwas oder gegen jemanden entscheiden. In Wirklich ist es aber ein Ja zu uns, um unsere eigenen Gefühle und Emotionen zu schützen und uns nicht selbst zu verletzen. Ebenso kann ein entschiedenes Nein eine Geste des Respekts sein, den wir den Wünschen und dem Leben eines anderen entgegenbringen. Ich glaube, mit meiner Entscheidung tat ich uns beiden einen großen Gefallen.

Nun hab ich den Schreibtisch, welchen ich bereits in Tagträumen so nah am Himmel an das Fenster gerückt hatte, wieder an seinem alten Platz stehen. Aber, als ich heute in der Herbstsonne mit meinem Kaffee auf dem Balkon meiner Erdgeschosswohnung saß und das Eichhörnchen an der Tanne beobachteten konnte, dachte ich mir: So schlecht ist es hier ja auch nicht. Ich vertraue einfach darauf, dass die richtige Wohnung zur richtigen Zeit zu mir finden wird und bis dahin ist doch eigentlich alles okay wie es ist.

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