Sieh mich, hör mich, fühl mich!

Wir Menschen lernen sehr früh das Sprechen, um uns mitzuteilen, zu erklären und auszudrücken. Aber was ist mit der Zeit davor? Obwohl ein Baby nicht sprechen kann, sind wir in der Lage, es zu verstehen. Wir wissen intuitiv, wenn es dem Kind schlecht geht, wenn es kränkelt, müde ist oder Hunger und Durst hat. Kein Wort ist dafür nötig. Wir lesen seine Gestik und Mimik, wir beobachten es und ja, wir fühlen dieses kleine Lebewesen.

Wie ist es jedoch, wenn so ein Menschenkind dann sprechen lernt? Können wir es immer noch fühlen oder ist von dem Moment an nur noch wichtig, was gesagt wird? Ist es dann nicht mehr nötig, sich trotzdem die Zeit zu nehmen, um diesen Menschen zu beobachten, zu sehen und intensiv wahrzunehmen, ganz egal, was er sagt?

Zurzeit beobachte ich, dass die Sprache genutzt wird, um die eigene Wichtigkeit, die eigenen Katastrophen und die ständige Unzufriedenheit zu demonstrieren. Und während ihr unaufhörlich redet, frage ich mich manchmal, wo ich dabei bleibe. Ihr glaubt ihr kennt mich, aber ihr hört mich nicht, ihr seht mich nicht und fühlen könnt ihr mich schon lange nicht mehr. Es ist irgendwie kein Platz für mich in euren Dramen.

Du, zum Beispiel, die mir ständig von ihrem Job erzählt. Ich höre dir immer wieder zu, wenn du beschreibst, wieviel Stress du hast, was dich ärgert und wie erschöpft du abends bist. Jedesmal, wenn wir uns treffen, redest du davon. Allerdings erfahre ich nichts Neues. Es ist immer das selbe Lied. Du weißt, ich habe auch einen 40-Stunden-Job, spreche nur kaum darüber, weil es für mich eben nur ein Job, aber nicht mein Leben, ist. Außerdem fragst du mich nie, wie mein Tag im Büro war und wie ich mich dort fühle. Also reden wir weiterhin nur über dich und deinen Job.

Oder du, die mir erzählt, dass sie seit über zehn Jahren vor ihrem jähzornigen Mann immer wieder davon läuft und auch jeden Abend wieder zu ihm zurückkehrt. Ich frage dich, ob du diese chronische Flucht nicht endlich beenden willst. Du redest von Gewohnheit, Angst und fehlendem Selbstvertrauen. Auch dir höre ich sehr lange zu. Und dann wiederholst du mehrmals, ich hätte unglaubliches Glück, dass ich allein, ohne Mann, lebe. Woher willst du wissen, dass es für mich gut ist? Du fragst nicht und du weißt nicht, wie ich mich fühle, wenn ich in lauen Nächten allein Mond und Sterne bestaune. Du hast keine Ahnung, wie wahnsinnig Vermissen weh tun kann. Du weißt auch nichts von meinem Wunsch, nur diese wunderbare Liebe zum Leben mit jemandem teilen zu können. Du vermutest lediglich, während du ununterbrochen redest.

Dann bist da noch du, der mich ständig fragt, was der Sinn in seinem Leben wäre. Sehr genau und intensiv beobachte ich dich beim Reden und versuche dich zu verstehen. Ich habe dir schon so viele Antworten auf deine Frage gegeben, aber es war keine dabei, die dir gefallen hat. Also stellst du sie mir immer wieder. Weißt du eigentlich, wie traurig es mich macht, dass scheinbar selbst unsere Gespräche und die gemeinsame Zeit diesem Moment in deinem Leben keinen Sinn geben? Würdest du mich wahrnehmen und sehen, könntest du meine Enttäuschung bemerken. Denn für mich sind genau diese gemeinsamen Stunden so wert- und sinnvoll. Aber auch du fragst nicht und bemerkst es nicht, während du deine eigene Tragödie vorträgst.

Es gibt auch noch dich, die mir erzählt, dass sie krank ist. Wenn du mir all deine Diagnosen erklärst und deine Schmerzen beschreibst, hast du mein vollstes Mitgefühl. Ich unterbreche dich nicht und nehme dich sehr ernst. Aber fragst du dich manchmal, wie es mir geht? Hast du eine Ahnung davon, dass ich manchmal Angst bekomme, wenn mein Herz schon wieder nicht im Takt schlägt, wenn es rast und stolpert und ich es so innig darum bitte, nicht schon heute, an diesem schönen Tag, sein Schlagen komplett einzustellen? Kannst du dir vorstellen, wie diese kleinen Abschiede verlaufen, wenn man damit allein und hilflos durch seine Wohnung läuft? Nein, ich rede nicht darüber, weil du mich nie danach fragst und weil zwischen deinen Ausführungen kein Raum für meine Probleme und Ängste ist. Deshalb redest du, ohne mich dabei anzusehen, und ich höre zu.

Ja, wir haben die Sprache gelernt, um uns zu verständigen. Aber ist sie wirklich ein Tausch gegen Intuition, Hinsehen, Hinhören und stilles Wahrnehmen? Du und du und auch du… ihr seid euch sicher, alles von mir zu wissen. Nichts wisst ihr, weil ich wenig rede und ihr mein Schweigen weder hören, verstehen noch fühlen könnt. Auf eure Frage, wie es mir geht, reagiere ich schon lange nur noch mit einem „Passt schon“. Zu oft wollte ich ehrlich antworten und wurde nach den ersten Worten von euren viel wichtigeren Tragödien unterbrochen. Meine schönen und meine traurigen Geschichten, mein Leben, mein Lieben und meine Gedanken interessieren euch nicht. Vielleicht sind sie nicht spektakulär genug für euch. Ihr wisst nicht, was mir weh tut, was mich berührt oder was mir so richtig Spaß und Freude bereitet. Von meinen Träumen und Wünschen habt ihr genauso wenig Ahnung.

Ihr wundert euch nur, dass ich sehr viel Zeit mit mir alleine verbringe. Aber wisst ihr, es gibt keinen Unterschied zwischen dem Mit-Mir-Allein-Sein und dem Mit-Euch-Allein-Sein. Allein ist eben allein, auch wenn es mich manchmal traurig macht.

Allerdings denke ich mir dann, dass jede Blume doch auch für sich alleine blüht, egal, wie viele andere Pflanzen um sie herum stehen. Sie macht sich keine Gedanken darüber, ob sie gesehen und verstanden wird oder ob sie gefällt. Sie blüht einfach, so schön, wie es eben nur geht. Am Ende des Sommers wird sie ohnehin allein verwelken. Keine der anderen Blumen, die doch so lange neben ihr blühten, wird aus Freundschaft, Verständnis oder Liebe mit ihr gehen. Sie lebt und sie stirbt auch irgendwann allein.

Nur im tobenden Sturm oder eiskalten Regen wünscht sich so eine Blume manchmal dieses eine große Blatt, das sich schützend ganz nah an sie schmiegt. Nur ein einziges Blatt, das die Schönheit dieser Blume sieht, sie fühlt…

… ohne dass sie jemals ein Wort dafür sprechen musste.

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