Mein Wille geschehe!

Neulich erzählte ich jemandem von einer ziemlich verzwickten Situation, in der ich mich befinde und wie sehr mich diese hin und her reißt. Die Antwort darauf war, ich hätte doch einen freien Willen und könne diese Situation jederzeit und aus eigener Kraft ändern oder beenden. So, so!

Okay, heute ist ein guter Tag, mit diesem Hokuspokus zu beginnen. Dann WILL ich zuerst einmal, dass die Wolken heute am Himmel verschwinden. Ich WILL wieder Sonne. Dann WILL ich auch noch, dass dieser verdammte eingeklemmte Brustwirbel, der mir seit Tagen die Luft zum Atmen nimmt, sofort aufhört so höllisch zu schmerzen. Ich WILL auch, dass diese blöde Speicherkarte in meinem Smartphone augenblicklich wieder funktioniert, schließlich sind dort meine schönen Musiktitel und Fotos drauf. Ein bisschen mehr Geld wäre im Moment auch ganz nett. Ich WILL endlich eine Gehaltserhöhung. Ach ja, und dann WILL ich auch noch den Typen, an den ich gerade so großzügig mein Herz verschleudere, jetzt sofort hier haben.

Gut, ich habe meinen Willen kundgetan. Wie lange muss ich nun warten? Fünf Minuten? Eine Woche? Vielleicht sogar Monate? Wenn mein Wille alles verändern kann, sollte es doch wohl zeitnah möglich sein. Nun muss ich mir noch überlegen, wie ich diese Zeitspanne überbrücke. Ich könnte solange total frustriert sein, verbittert, ständig jammernd, fluchend und unglücklich. Auch kämpfen könnte ich. Eventuell geschieht mein Wille früher, wenn ich mich gegen die momentane Situation so richtig ins Zeug lege und alle Kraftressourcen opfere, um diese mir nicht gefallenden Gegebenheiten zu ändern.

Es ist lächerlich! Letztendlich wird gerade jetzt nichts passieren und ich werde wohl vergebens darauf warten, dass das, was ich WILL, irgendwen oder irgendwas interessiert. Mein Wille wird gar nichts verändern. Eine einzige Möglichkeit habe ich. Ich kann akzeptieren, was gerade ist und ich kann lediglich auf all das (re)agieren. Wenn die Sonne heute über keine Ambitionen verfügt, sich zu zeigen, zieh ich mir eben eine Jacke über. Wenn der dämliche Brustwirbel meint, er müsse mich noch eine Weile ärgern, muss ich wohl doch mal ein Schmerzmittel nehmen. Die Speicherkarte wird sich nicht mehr von selbst reparieren. Ich werde demnächst eine neue kaufen. Bis mein Chef sich durchringt, mein Gehalt aufzustocken, werde ich auf den ein oder anderen Sinnlos-Einkauf verzichten müssen. Es wird sich auch nicht der Boden auftun und der Typ, den ich WILL – voilà – vor mir stehen. Bleibt zurzeit das Vermissen und die ein oder andere Träne.

Aber, ich werde mich auf keinen Fall wegen meiner unerfüllten Willenserklärungen zurückziehen, das Leben verfluchen und stetig unglücklich sein.

Gestern saß ich mit einem Freund am ziemlich großen See. Ich erzählte ihm, dass ich diese Weite und Unüberschaubarkeit so sehr liebe, da sie mir immer wieder zeigt, wie klein und unwichtig ich und meine Problemchen sind. Er dagegen meinte, ihm gefalle dieser Anblick nicht unbedingt. Es löse in ihm kein gutes Gefühl aus, nicht zu wissen, was dahinter – hinter dem Horizont – sei. Ja, ich verstehe das. Dann fehlt die Kontrolle. Genauso wie im Leben. Kontrollverlust kann Angst machen. Nicht zu wissen, wann eine Situation sich ändert, wie es auf lange Sicht weiter geht und was dahinten noch so alles kommt, vermag zu beunruhigen. Aber es kann auch bewusst machen, dass das Leben sich nicht unserem Willen beugt. Wenn uns das endlich klar wird, bleiben wir von vielen Dramen und unnötigen Aufregungen verschont. Leben wird leichter, entspannter und stabiler.

Und mal ganz ehrlich, Kontrollverlust ist doch auch ein bisschen wie Sex. Sich hingeben, fallenlassen, annehmen und genießen, was gerade ist, mit einer Portion knisternder Neugier, wo und wie es wohl enden wird…

… im Idealfall mit total zerzausten Haaren, wie vom Wind am See, den ich auch nicht kontrollieren oder beeinflussen kann.

Kommentar verfassen