Pop up Leben

Kennst du auch diese komischen Tage? Jene, an denen du hier und irgendwie doch gar nicht hier bist? An denen du denkst, dass du im Zug an der verkehrten Haltestelle aufgewacht und ausgestiegen bist und dass du hier gar nicht hin wolltest.

Es beginnt schon am Morgen. Der Wecker klingelt und beim Wachwerden fühle ich mich leer. Eigentlich hat sich seit gestern Abend, als ich gutgelaunt ins Bett gegangen bin, nichts verändert und trotzdem ist alles anders. Kein Gefühl, keine Emotion. Nur Gedanken sind da, wirre unzusammenhängende Gedanken.

Irgendetwas schiebt mich in die Küche an den Wasserkocher und gießt den Kaffee auf. Die Prozedur im Badezimmer geschieht so routiniert, dass es mir vorkommt, als müsste ich selber gar nichts dafür tun. Es duscht, kämmt und schminkt sich von allein.

Beim Kaffeetrinken wischen die Finger über das Display des Smartphones. Spam wird gelöscht, das Wetter abgefragt und das Social Network einmal durchgescrollt. Ich habe weder richtig gelesen noch hat mich irgendetwas davon interessiert. Es langweilt mich nur. Die Hände greifen irgendein Kleid, irgendwelchen Schmuck. Sie wissen schon, was zusammen passt. Und wenn es nicht passt, ist es auch egal.

Der Weg zur Arbeit ist jeden Tag der selbe. Eigentlich liebe ich diesen Weg, auf dem ich Richtung Osten der Morgensonne entgegengehe. Das Vogelorchester erreicht mich aber heute nicht. Der kleine Mischlingshund mit seinem Frauchen, der mir jeden Morgen entgegenkommt, bringt mich auch nicht wie sonst zum Schmunzeln.

Im Büro hat mir die Kollegin, wie fast jeden Morgen, schon den Computer hochgefahren und einen Kaffee auf den Schreibtisch gestellt. Ich bedanke mich nicht, wie üblich. Ist ja schließlich immer der gleiche Vorgang. Aus jeder Bürotür dringen Stimmen. Der Chef telefoniert schon und die anderen Kolleginnen schnattern in ihren Büros über irgendetwas. Normalerweise höre ich zu, belächle für mich die Geschichten und beschmunzle die kleinen Dramen. Heute nicht. Obwohl sie mir viel zu laut sind, verstehe ich kein Wort. Auch die Arbeit erledigt sich scheinbar ohne mich. Ich schreibe, ich rechne und ich lese. Am Ende des Tages werde ich aber nicht mehr wissen, was ich geschrieben, gelesen oder welche Akte ich bearbeitet habe.

Es ist total verrückt!

Als Kind besaß ich eines dieser Pop up Bücher. Die räumlich wirkenden bunten Bilder, ploppten quasi im 3D-Effekt auf, wenn man eine Seite aufschlug. Und auf jeder Seite gab es eine Pop up Figur, die an einem Papphebel bewegt werden konnte. Genauso fühle ich mich. Jemand bewegt mich in einer absurden Geschichte, während alle Anderen an ihren gewohnten Plätzen um mich herum stehen. Auch ich bewege mich lediglich an der Stelle, an der ich immer bin, wenn das Buch aufgeschlagen wird, dort wo ich nicht weg kann. Und all das andere Zeug um mich herum, beachte ich heute nicht. Es ploppt ja sowieso jeden Tag in der selben Form, an der selben Stelle wieder auf.

Am Abend sitze ich da draußen auf meinem Balkon. Die Nachbarin dreht wie immer mit ihrer Katze eine Runde ums Haus. Gegenüber am Häuserblock fährt der ältere Herr vor, aus dessen Auto in hörsturzgefährdeter Lautstärke klassische Musik dröhnt. Er wird wieder so lange im Fahrzeug sitzen bleiben, bis der Titel zu Ende gespielt ist. Ich bin mir sicher, dass es auch immer die selben Vögel sind, die vor dem Balkon auf der Wiese im Gras picken. Sie haben sich hier wohl mittlerweile häuslich eingerichtet. Vielleicht ist es an der Zeit, ihnen Namen zu geben.

Und so sitze ich an diesen Tagen manchmal bis in die Nacht draußen, komplett sinnbefreit. Und mit der Dunkelheit krampft der Bauch so fürchterlich und Tränen schießen in diese Augen, die so fragend den schwarzen Himmel und den Mond anstarren. Ich kenne das mittlerweile schon von mir. Es ist nicht schlimm. Es tut bloß verdammt weh an diesem komischen Tag. Aber es ist nur Sehnsucht, mehr nicht. Sehnsucht nach irgendwann, nach irgendwem und nach irgendwohin. Von mir aus sofort, am liebsten nicht allein und am besten ohne ein bestimmtes Ziel.

Einfach nur weg aus diesen irren Pop up Szenen, in denen jeden Tag wieder alles an gewohnter Stelle aufploppt, in dem die Pappfiguren sich niemals ändern werden…

… und in dem auch ich morgen wieder mitspiele, mitrede, mitlache, mitsehe und mitfühle, weil mir nach diesen komischen Tagen letztendlich sowieso wieder klar wird, dass ich nun mal in dieses Buch gehöre und hier solange mein Platz sein wird, bis meine Figur irgendwann nicht mehr bewegt wird.

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