And the Winner is… Nobody

Ihr streitet und ich beobachte euren Streit. Es ist kein Streit zwischen Fremden, bei dem man sich einfach nur umdrehen und gehen kann. Ihr steht euch nahe, der Andere ist euch wichtig und eigentlich wollt ihr gar nicht streiten. Tja, wer will das schon? Es sind Gefühle im Spiel und wenn diese bei so einem Streit eine Rolle spielen, ist es sehr leicht, mit Worten, ähnlich einem Messer, in offene Wunden zu stechen, die dann vielleicht sehr lange Zeit nicht heilen können. Dabei ist jeder Streit nur eine Momentaufnahme. Eine Darstellung dessen, wie es jetzt gerade ist, wie eine Situation von dem Einzelnen in diesem Augenblick wahrgenommen wird.

Zurzeit seht und nutzt ihr sehr großzügig diese Wunden, um euch gegenseitig weh zu tun. Ihr verletzt so tief, ignoriert und versucht, dem Anderen die Schuld zu geben, ihn für eure eigenen Gedanken und euer Empfinden verantwortlich zu machen. Keiner hört dem Anderen wirklich zu, jeder schreit taub seinen eigenen Frust hinaus. Und am Ende geht einer. Vielleicht nur für ein paar Stunden, vielleicht auch für länger. Ihr verlasst die Situation und euch, obwohl ihr doch zusammen sein wollt. Ziemlich dumm, oder? Nein, ihr streitet nicht miteinander, sondern gegeneinander. Weil jeder verbissen versucht, als Sieger aus diesem Wortgefecht hervorzugehen. Aber wisst ihr was? Es gibt bei eurem Streit keinen Gewinner. So, wie ihr es anstellt, gibt es nur zwei Verlierer. Es führt dazu, dass ihr euch am Ende beide schlecht fühlt.

Ich hatte das Glück, solch einen Streit einmal anders zu erleben. Es ging auch um Gefühle. Ob um meine, seine oder um unsere, spielt keine Rolle mehr. Das Gespräch begann ebenso mit „Du hast gesagt…“ und „Du hast gemacht…“. Aber dieses gegenseitige Schuldgeben hielt sich nur ganz kurz und dann wurde es richtig laut. Einen Moment machte mir die Lautstärke des Anderen Angst. Als ich allerdings bemerkte, dass er endlich vieles von dem raus ließ, was ich erfahren wollte, feuerte ich ihn genauso lautstark sogar ein wenig an. Ungefähr… „Ja, komm! Schrei ruhig! Schrei! Lass es raus!“ Jeder blies dem Anderen ordentlich Wind ins Gesicht und ließ seine eigenen Gedanken und Emotionen regelrecht explodieren. Es ging nicht mehr darum, was der Andere irgendwann mal gesagt oder getan hatte, sondern wirklich nur noch um das, was jeder für sich selber empfand und mitzuteilen hatte. Je mehr der Eine allerdings seiner Stimme kräftigen Schub verlieh, desto stimmgewaltiger wurde auch der Andere.

Ich war außer mir und erwischte mich sogar beim wilden hilflosen Aufstampfen mit den Füßen. Aber ich konnte nicht einfach davon laufen. Denn ich saß mitten in der Nacht, weit weg von zuhause in einem Lkw. Aussteigen bei voller Fahrt irgendwo auf der Autobahn wäre ziemlich unklug gewesen. Ich hatte keine Chance, theatralisch aufzustehen und die Tür mit atemberaubender Dramatik hinter mir zuzuwerfen. Ich musste diesen Streit aushalten. Dadurch, dass ich der Situation nicht entkommen konnte, war ich auch gezwungen, hinzuhören. Und genau das tat ich.

Irgendwann wurde es plötzlich still, so als hätte ein Regisseur diese Szene für fertig abgedreht erklärt. Klappe! Aus! Es wurde dem Gesagten nichts mehr hinzugefügt und es wurde auch nicht nochmals von vorne begonnen. Die lauten Worte blieben nun unkommentiert, so wie sie gesagt wurden, in diesem engen Raum stehen. Ich begann zu weinen. Ganz fürchterlich hab ich geweint und sehr lange. Eine Stunde? Zwei Stunden? Oder sogar mehr? Ich weinte, weil ich los geworden war, was ich so lange nicht sagen konnte und woran ich fast erstickt wäre. Ja, wahrscheinlich weinte ich vor Erleichterung, vielleicht aber auch, weil ich diesen Streit doch so gar nicht gewollt hatte. Ich weiß es nicht mehr genau. Dabei flog in dieser plötzlichen, bedrückenden Stille die ganze Welt in der Dunkelheit dieser Nacht am Seitenfenster des Lkw an mir vorbei. Stundenlang. Und währenddessen drang auch das, was der Andere gesagt hatte, mit Verzögerung bis zu mir durch. Ich hatte alles gehört, aber auch so wahnsinnig viel von dem, was er nicht ausgesprochen hatte. Und auch das ließ mich weinen.

Nein, es gab keine tiefen Verletzungen, keine Erniedrigungen, niemand tat dem Anderen absichtlich weh oder bohrte in Wunden, die mit Sicherheit auf beiden Seiten da und für den Anderen erkennbar waren. Dafür aber hatte ich die Chance, zu erfahren und zu hören, was zwischen den zum Teil gebrüllten Worten lag und ich denke, umgekehrt war es genauso. Nicht einen Moment fühlte ich mich schuldig, verantwortlich oder als Verlierer. Vielleicht haben wir mit Respekt gestritten, den wir uns trotz der aufbrausenden Stimmung in dieser Nacht bewahren konnten, vielleicht auch mit Achtung vor dem Menschen, der uns doch mal so viel bedeutet hat. Ich fragte mich in diesen Stunden des Nichtredens, ob er mich wohl am nächsten Rasthof rausschmeißen wird. Genauso überlegte ich, bei der nächsten Gelegenheit einfach auszusteigen. Irgendwie würde ich schon wieder nach Hause kommen. Aber weder er noch ich tat etwas von dem Gedachten.

Als die Dunkelheit sich auflöste und der Morgen dort draußen auf der Autobahn wieder begann, wurde das Geschehen der Nacht nicht mehr erwähnt. Es wurde nicht nochmals aufgewärmt und endlos diskutiert, denn es war alles gesagt und wir waren trotzdem in der Lage, uns immer noch anzuschauen, ohne uns für irgendetwas oder für irgendwelche unbedacht gesprochenen Worte entschuldigen zu müssen. Ich bin mir heute sicher, dass wir uns zugehört haben; vielleicht den Anderen nicht unbedingt verstanden, aber immerhin zugehört. Deshalb gab es keinen Verlierer und keinen Gewinner in dieser Auseinandersetzung.

Ich bin heute noch ein wenig stolz auf uns, dass wir in der Lage waren, uns so einander zu stellen, ohne dabei voreinander wegzulaufen. Ich behaupte heute, wir rieben uns auf Augenhöhe mit- und aneinander. Ja, ich nenne das, was damals passiert ist, nicht Streit, sondern Reibungspunkte. Diese sind wertvoll, weil sie uns die Möglichkeit geben, den, den wir doch so verdammt gern haben, zu erkennen und klarer zu sehen. Weil uns eben diese Reibungsmomente in der Beziehung zueinander (egal welcher Art) ein großes Stück näher bringen können.

Wenn ihr streitet, denkt daran, dass ihr nicht streitet, um euch zu verlieren, sondern, um euch für euer Gegenüber verständlich zu machen und das, was euch verbindet, zu bewahren. Wenn ihr endlich aufhört, euch erst dann gut zu fühlen, wenn der Andere sich durch eure Worte so richtig schlecht fühlt, könnt ihr eventuell sogar erkennen, dass es gar kein Problem zwischen euch beiden gibt.

Denn manchmal ist der Eine auch nichts weiter, als ein Kollateralschaden in einem Kampf, den der Andere im Moment mit sich selber führt. Wenn das gesehen und erkannt wird, braucht es keine weiteren unnötigen Worte, die nur noch mehr verletzten…

… dann braucht es keinen Gewinner und keinen Verlierer.

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