Als du vor 30 Jahren geboren wurdest, jubelte die Welt und klatschte Applaus. Nur ich nicht. Jeder redete mir ein, dass ich mich freuen muss und dass so ein Baby mich doch nun so richtig glücklich machen müsste. Es machte mich aber in diesem Moment nicht glücklich.
Ich war so wahnsinnig jung und du so schwer. Deine 48 Zentimeter Körpergröße und deine 2.800 Gramm Körpergewicht konnte ich kaum halten. Mir fehlte die Kraft, diese große Verantwortung, die sie mir in den Arm legten, zu tragen. Ich weinte, wenn ich mit dir allein war, während ich dein winziges Gesichtchen küsste und deine kleinen Fingerchen staunend hielt, sie einfach nur streichelte. Es waren wohl diese Wochenbettdepressionen. Aber davon wusste ich damals nichts und ich fühlte mich schlecht dir gegenüber. Ich wollte doch die perfekteste Mutter der Welt sein und hatte keine Ahnung, wie ich das schaffe. Du solltest die unbeschwerteste Kindheit haben sowie die glücklichste Familie und ich wollte dich bestmöglich auf das Leben, das Leben in dieser Gesellschaft, vorbereiten. Ich hatte mir zu viel vorgenommen und diese ganzen Pläne und Ziele sorgten dafür, dass ich ständig in Angst und Sorge war, ob ich als Mutter dem entspreche, was man von mir erwartete, was man mir, weil ich selber noch so jung war, einredete. Und genau daran trug ich so schwer. Dabei konnte es gar nicht funktionieren, denn es waren nur die Vorstellungen der anderen Menschen, denen ich versuchte gerecht zu werden und von denen ich glaubte, sie wären richtig.
Ich war niemals die perfekte Mutter und du bist auch nicht die perfekte Tochter geworden. Zum Glück! Als ich erkannte, dass der Weg, auf den man uns geschickt hatte, unmöglich der einzig richtige sein konnte, veränderte sich so viel. Ich mich, du dich und wir uns. Es macht so unheimlich viel Spaß, mit dir so oft wie möglich aus einer Welt voller erhobener Zeigefinger und voller „DAS GEHT DOCH NICHT!“ auszubrechen.
Du bist eine erwachsene Frau geworden und dabei so herrlich neugierig, probierst dich aus und verlässt für deine Ideen und Träume ohne Reue jegliche Komfortzone. Du bist offen für alles Neue und hängst nicht an vermeintlicher Sicherheit. Du lebst Spontanität, Freude und Liebe. Das ist so großartig zu beobachten. Dennoch fragst du mich manchmal, ob deine gewählten Wege wohl gut und richtig sind. Aber weißt du, du brauchst mich nicht fragen. Jeder Schritt, der sich für dich gut anfühlt, ist der richtige, egal, was ich darüber denke. Ich bin nicht mehr der Dirigent deines Lebens. Niemand ist das. Du bist ganz allein in der Lage, jede Melodie eigenständig zu spielen, wenn du die Noten lesen kannst. Denn diese Noten schreibt das total verrückte Leben nur für dich. Und glaube mir, wenn du dich diesem Notenblatt hingibst und nicht ständig versuchst, etwas anderes dazwischen zu kritzeln, wird jederzeit die richtige Sinfonie gespielt werden.
Wenn ich dich heute, an deinem 30. Geburtstag, umarme, werde ich nicht nur dich einen Moment an mich drücken, sondern auch dieses kleine Leben, das in dir wächst und das du in einigen Monaten im Arm halten wirst. Vielleicht wird dieses Würmchen auch dir anfangs zu schwer sein, vielleicht wirst du wie ich Momente haben, in denen du an dir zweifelst und nicht weißt, wie du diese große Verantwortung tragen sollst. Dann denk bitte daran…
Du musst niemals perfekt sein, du musst auch zu keinem Zeitpunkt fehlerfrei funktionieren und du darfst dich auch gerne einen Dreck um Meinungen und Vorstellungen anderer scheren, auch um meine, wenn sie sich für dich nicht richtig anfühlen. Lass niemanden dieses schöne Lied von eurem Leben schreiben, außer das Leben selbst. Sing laut zu den Noten, auch, wenn du den Text noch nicht vollständig kennst, und tanze danach, selbst wenn du nicht alle Schritte fehlerfrei beherrscht.
Du brauchst mich dazu zwar nicht mehr, aber ich werde dich immer still beobachten. Und solltest du durch all diesen Irrsinn dort draußen doch aus dem Takt geraten und nicht mehr deine eigene Melodie hören können, werde ich in deiner Nähe sein. Versprochen!
Dann werde ich wieder deine Hände halten, deine kleinen Finger, so wie damals. Ich werde dich an deine eigene kleine Sinfonie erinnern. Denn egal, wie viel Zeit auch vergeht…
… du bleibst, solange das Leben auch noch Noten für mich schreibt, mein kleines großes Mädchen, das mir einst so verdammt schwer schien und in Wirklichkeit doch so leicht zu lieben ist.