Wer im Regen bleibt

Ich bin krank. Und nein! Ich bin nicht von Covid-19 befallen. Es ist scheinbar gerade wichtig, diese Ergänzung hinzuzufügen. In meinem Bekanntenkreis glichen sich nämlich die Reaktionen auf die Nachricht, dass ich krank bin. Da war die direkte aus einem Wort bestehende Frage „Corona?“, die erleichterte Nachricht „Zum Glück nicht Corona.“ oder „Hauptsache, nicht Corona.“ Noch besser waren die einfach nur wortlos mit diesen erschrockenen und entsetzten Emojis gesandten Nachrichten. Am liebsten hätte ich auf all diese Bemerkungen ebenfalls mit nur einem Emoji geantwortet, nämlich mit dem, der sich die flache Hand an die Stirn haut und damit fragt: „Was stimmt bei euch nicht?“ Corona hat mich nicht erwischt, aber das ändert nichts daran, dass ich krank bin, dass es mir verdammt scheiße geht und ich mich gerade ziemlich allein damit fühle. Es hat den Anschein, als ob es nie andere Erkrankungen gab. Waren wir vor diesem mediengepushten Virus eigentlich nie krank? Und wenn doch, hat Covid-19 Erkältungen, Halsentzündungen, Bronchitis oder andere Diagnosen verschluckt? Man hält sich von mir fern. Und das in einem Moment, in dem ich mich hilflos und erschöpft fühle. Statt Mitgefühl schlägt mir geballte Angst entgegen.

Ich dachte gestern abend zurück an die Zeiten, in denen wir Kranke nicht allein ließen. Wir gingen mit Blumen und ein wenig Obst oder Schokolade zu ihnen. War der Erkrankte ansteckend, verzichteten wir auf Umarmungen und Knutscherei, setzten uns eben nicht zu ihm aufs Sofa, sondern gegenüber auf den Sessel. Manchmal wuschen wir uns nach dem Besuch einfach nur die Hände. Aber wir waren da. Wir überließen diese Menschen nicht sich selbst. Ich fühle mich aber gerade ziemlich allein und vor allem wie eine Aussätzige. Dazu stellt sich mir die Frage, wie wenig Verantwortungsbewusstsein man mir wohl zutraut. Denn sollte ich virus-positiv sein, stünde schließlich außer Frage, dass ich betreffende Personen darüber informiere.

Solche Situationen sind aber eigentlich auch immer eine gute Möglichkeit, um hinzusehen. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um eine Krankheit handelt oder andere Zeiten, in denen wir zu Boden geworfen werden, die uns in schwarze Löcher stoßen und in denen wir unser Lachen für die scheinheilige Welt dort draußen mal nicht zur Verfügung stellen. Vielleicht sind unsere dunkelsten Tage in Wirklichkeit die bedeutsamsten für uns, um zu erkennen, was uns wichtig ist, aber auch, wem wir wichtig sind, wer bei uns bleibt.

Als ich heute nacht fiebrig und fröstelnd unter meiner Decke lag, erinnerte ich mich plötzlich an einen Tag in diesem Sommer. Es war ein schöner Tag mit viel Sonne, fast schon zu viel davon. Ich war verschwitzt und fühlte mich glücklich, so wie es an hellen großartigen Tagen nunmal ist. Am frühen Abend zogen Wolken auf und es begann zu regnen. Als immer mehr Tropfen auf das Balkongeländer tropften, schaute ich mein Gegenüber an und sagte: „Lass uns rausgehen.“ Ein Blick, ein gemeinsames Grinsen und wir verließen, so wie wir gerade waren, barfuß die Wohnung. Während Menschen vor dem Regen schutzsuchend ins Haus stürmten, liefen wir hinaus. Als andere sich unter Bäumen verkrochen, hielten wir unsere Gesichter Richtung Himmel. Der Regen durchnässte mein Kleid, machte das Make up zunichte und die Frisur komplett hinüber. Ja, ich hatte mich auf einen lauen Sommerabend mit einem traumhaften Sonnenuntergang gefreut und mein Plan war es, dabei gut auszusehen. Ich wollte den Tag so beenden, wie er bisher gelaufen war. Der Regen hatte mir nun einen Strich durch die Rechnung gemacht. Aber er tat auch noch etwas anderes mit mir. Er spülte den Staub und Dreck eines heißen Tages von mir ab. Und obwohl er mir meine Vorstellung von diesem Abend und auch mein zurechtgemachtes Äußere nahm, war ich ihm dankbar für das, was ich in diesem Moment spüren konnte. Das von der Sonne ausgetrocknete Gras fühlte sich unter den nackten Füßen gerade wieder herrlich frisch und weich an. Die Pfützen, die sich sekundenschnell auf dem asphaltierten Weg gebildet hatten, umspülten meine Knöchel mit lauwarmem Wasser. Auf meinen Armen bildeten sich Perlen. Ich beobachtete, wie sie langsam die Haut hinunter glitten und alles mitnahmen, was sich im Laufe des Tages dort angesammelt hatte. Hätte ich mich vor diesem Regen versteckt und geschützt, wäre all das Empfinden und Fühlen in diesem Moment nicht möglich gewesen. Und noch etwas berührte mich. Ich war nicht allein, sondern hatte ein Begleitung auf dem Weg durch das Unwetter, jemanden, der einfach wortlos und pitschnass an meiner Seite ging und all das mit mir teilte.

Ich weiß nicht, weshalb mich gerade letzte Nacht dieser Sommertag noch einmal einholte. Vielleicht, um mich daran zu erinnern, dass auch trübe Momente ihre Bedeutung haben. Sie zeigen mir, was ich niemals erfahren würde, wenn sie ausblieben. Dabei sind sie verdammt wichtig, um meinen Blick wieder für das Wesentliche zu klären, auch, um mich erkennen zu lassen, wer mich im Regen nicht allein stehen lässt; wer bei mir ist, wenn ich hilflos zusehen muss, wie meine Vorstellungen vom Leben gerade in kleinen Rinnsalen davonfließen oder ich eben mal nicht in den schönsten Farben leuchte.

Deshalb ein Danke an die beiden Menschen, die mutig genug waren, mich gestern zu besuchen. Danke, dass ihr mich nicht zum Test gedrängt, sondern euch trotz eigener Ängste und Gedanken in dieser verrückten Zeit einfach nur zu mir aufs Sofa gesetzt habt. Danke, dass ihr in meiner Hilflosigkeit und Traurigkeit dagewesen seid…

… dass ihr mich für einen Moment im Regen begleitet habt.

Für jene, die auch dann bleiben, wenn ich bin, wie ich bin.

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