Besinnlichkeit

Es ist Heiligabend und ich werde allein sein. Das macht mich sehr traurig, denn zu diesem Abend gehören für mich die Wärme flackernder Kerzen, Gerüche, die es zu keiner anderen Zeit des Jahres gibt, eine laute Welt, die sich kurzzeitig in Stille bettet und Menschen, die mir nah sind, die ich liebe. Aber eben diese haben sich für heute aus unterschiedlichsten Gründen anders entschieden.

Warum bin ich eigentlich so traurig? Ich habe mir zuhause eine lichtvolle Atmosphäre geschaffen, mir selbst in den letzten Tagen ein paar kleine Geschenke gemacht und etwas Schönes zu Essen vorbereitet, selbst wenn ich heute abend mit meinem Glas Wein nur der Wand gegenüber zuprosten werde.

Ich weiß, dass ich im Grunde genommen mein ganzes Leben allein bin und das beginnt bereits bei der Geburt. Ganz gleich mit welchen Tohuwabohu wir auf dieser Erde empfangen werden, durch den Geburtskanal müssen wir uns im Normalfall allein kämpfen. So ähnlich wird es auch in der Stunde unseres Todes sein. Vielleicht werden in diesem Moment Menschen an unserer Seite sitzen. Den Weg hinüber gehen wir allerdings allein und niemand wird uns freiwillig begleiten. Weshalb sollte also in der Zeit zwischen Geburt und Tod irgendetwas anders sein?

In den vergangenen Wochen und Monaten fühlte ich dieses Alleinsein ganz besonders. Wenn man in Ruhe und friedlich dasitzend dem Treiben einer scheinbar aus den Fugen geratenen Welt zuschaut; wenn man dem Gestank der Angst entflieht und sich Räume zum freien Atmen schafft, wird man sehr schnell nicht mehr verstanden und wünscht sich oft jemanden, der sich einfach mit der gleichen Gelassenheit dazu setzt. Man ist quasi allein unter Menschen.

Als ich Anfang des Jahres mein veröffentlichtes Buch in den Händen hielt, hörte ich oft den Satz: „Ich freue mich für dich.“ Aber dieses eigene Hochgefühl, verbunden mit Stolz und Freudentränen, konnte niemand anders für mich fühlen. Das erlebte ich für mich allein.

Wenn ich an manchen Tagen stundenlang wie ein Embryo zusammengerollt unter meiner Decke liege, weil ich Schmerzen habe, tut es gut, wenn jemand für ein Weilchen da ist und mich ablenkt. Trotzdem muss ich letztendlich der Hilflosigkeit und Ohnmacht dieser Krankheit allein gegenübertreten.

Wenn ich im Leben etwas entscheiden muss, können mir andere Ratschläge geben, auch versuchen, mich zu belehren oder zu bekehren. Die Entscheidung selbst, muss ich jedoch immer alleine treffen und ebenso deren Konsequenzen und die Verantwortung dafür tragen. Das nimmt mir niemand ab.

Wenn meine Seele schreit, weil sie verletzt und zerrissen scheint, dann kann man mir zuhören, wenn ich reden möchte. Aber der Aufgabe des Reparierens und Heilens muss ich mich allein stellen. Den tiefsten Schmerz kann niemand für mich fühlen, den muss ich allein aushalten.

Ich kann versuchen zu erklären, was Liebe für mich bedeutet, wie sie sich anfühlt und wen oder was sie alles einschließt. Wenn der Andere so eine Liebe aber nie selbst gespürt oder erfahren hat, ist jedes Wort sinnbefreit. Ich kann sie nur still und leise für mich allein (er)leben und mein Herz davon fluten lassen.

Wenn mir all das klar ist, weshalb bin ich dann heute, am Heiligabend, so wahnsinnig traurig? Vielleicht, weil es in all dem Alleinsein auch Menschen gibt, die mir wichtig sind. Da sind jene, die in diesem Jahr mit mir lachten, mit mir träumten, die mich umarmten und denen ich vertraute, die mich begleiteten. Ich denke aber auch an jene, die ich begleitete, an deren Seite ich felsenfest stand, denen ich Halt gab und Verlässlichkeit. Ich erinnere mich gerade an mehrere „Ich werde für dich da sein.“

Ich weine wohl ein wenig, weil mir diese Menschen wichtig sind, weil ich sie liebe und der Zauber, den ich seit meiner Kindheit mit dem Heiligabend verbinde, ohne sie nicht derselbe ist. Vielleicht fühle ich mich heute nicht einfach nur allein, sondern ein wenig einsam und vergessen. Ich bin eben auch nur ein Mensch.

Und selbst, wenn heute niemand bei mir ist, wünsche ich in Gedanken allen, die meinen Weg in diesem Jahr kreuzten, teilten, mit mir gingen oder verließen, wunderschöne Weihnachten. Ich gebe ihnen ein wenig von meinem geheimnisvollen Zauber dieser Zeit mit.

Und wer weiß… Wenn zur Nacht alle Kerzen erloschen sind, besinne ich mich in Anbetracht der Besinnlichkeit dieser Zeit vielleicht tatsächlich darauf, dass das stille Gespräch mit der weißen Wand beim Essen ebenso wie das Alleinsein manchmal gar nicht das schlechteste, sondern das ehrlichste ist.

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