Der Baum

(Aus dem Tagebuch für meine Enkeltochter)

Es ist der 31. Dezember 2020 und ich frage mich gerade, was sie dir eines Tages über dieses Jahr erzählen werden. Wahrscheinlich wirst du viele unterschiedliche Meinungen zu hören bekommen. Welche davon du dann glaubst oder als wahr erachtest, vermag ich heute noch nicht zu wissen. Aber, wenn du irgendwann alt genug bist, um dies zu lesen, sollst du verstehen, wie ich, als deine Oma, dieses Jahr sah.

Im Frühjahr begannst du zu laufen. Du bist oft gefallen und doch wieder aufgestanden. Das Gehen lerntest du quasi in einer Zeit, als die Welt erstarrte und still zu stehen schien. Parallel dazu brabbeltest du deine ersten Worte und sehr schnell kleine vollständige Sätze. Du lerntest sprechen, als die Menschen sprachlos wurden. Zwar standest du vor abgesperrten Spielplätzen, buddeltest dafür aber im kleinen eigenen Sandkasten auf dem Balkon. Während viele Eltern mit der Situation, ihre Kinder nun über längere Zeit zuhause betreuen zu müssen, an ihre Grenzen stießen, sagte deine Mama, die auch nicht arbeiten gehen konnte: „Ich genieße es, denn ich werde wohl nie wieder so viel Zeit mit meinem Kind verbringen können.“

Ich habe in diesem Jahr sehr oft den Satz „Ich will die Normalität zurück.“ gehört. Deshalb habe ich Google nach der Definition von „normal“ befragt. Die Antwort war: „so [beschaffen, geartet], wie es sich die allgemeine Meinung als das Übliche, Richtige vorstellt“ Aber ist die allgemeine Meinung und deren Vorstellung wirklich immer richtig und so normal?

Ich sah im Frühjahr einen strahlend blauen Himmel, wie ich ihn schon lange zuvor nicht mehr gesehen hatte, weil nun keine Flugzeuge flogen. Die Vögel zwitscherten lauter, weil kein lärmendes Treiben auf den Straßen sie übertönen konnte. Das Wasser im See war klarer, weil keine Motorboote darauf fahren durften. Ich hatte das Gefühl, Leben in seiner Reinheit atmen zu können. Und das tat ich auch in vollen Zügen.

Sicherlich war es in diesem Jahr stiller. Es stimmt, dass wir weniger zwischenmenschliche Kontakte hatten. Aber jene Momente mit Menschen, die mich durch diese Zeit begleiteten, waren umso intensiver. Ich erlebte im Lockdown eine ungewohnte Präsenz von ihnen. Sie waren durch die sogenannte Normalität eben nicht abgelenkt, sondern in den Stunden, in denen ich Zeit mit ihnen verbrachte, wirklich bei mir. Sie inhalierten mit mir gemeinsam das einfache Leben, weil nichts anderes zur Verfügung stand. Das hat sich natürlich irgendwann im Laufe des Jahres wieder aufgelöst. Aber so ist es dann eben, wenn die Normalität teils zurückkehrt und alte Gewohnheiten weitergelebt werden können. Es war zumindest eine Chance, etwas anders zu (er)leben.

Vielen wurde durch die Lockdowns ihr gewohnter Alltag genommen. Jegliche Bespaßung durch Einkaufscentren, Kinos, Restaurants und Cafés fiel weg. Sie mussten sich mit sich selbst befassen. Ich glaube wirklich, dass so etwas schwierig sein kann, wenn man das bisher als sein normales Leben wahrnahm und täglich die gleiche Runde im Rad der Routine lief. Was, wenn dieses plötzlich stillsteht? Hab ich es einfacher in dieser Zeit, weil ich selbst mein wirklich normales, einfaches Leben nicht in Konsum-Hochburgen sehe? Weil für mich das aufregendste Kino immer noch dort draußen stattfindet? Naja, tatsächlich fehlen auch mir hin und wieder geöffnete Cafés. Allerdings nur, weil sich bloß wenige in der kalten Jahreszeit dazu überreden lassen, mit mir den Kaffee ganz unspektakulär aus einer Thermoskanne am See zu trinken. Das ist für sie eben nicht normal.

Mir ist selbstverständlich klar, dass Viele in diesem Jahr um ihre Existenz bangten oder sogar verloren. Mir ist ebenso bewusst, dass Homeschooling und Homeoffice in Verbindung eine große Herausforderung darstellen. Aber was immer du irgendwann über diese Zeit erzählt bekommst, für mich persönlich war es ein Aufatmen und Wahrnehmen des wirklichen Lebens. Es war die Möglichkeit, jetzt nur meine eigene kleine Freiheit zu spüren. Denn egal, inwieweit man unser Tun ein- oder beschränkt, das Herz und der Geist bleiben frei, wenn wir es freihalten. Dann sehen wir weiterhin mit Staunen einem Sonnenauf- oder -untergang zu. Dann wird uns weiterhin der See oder das Meer mit seiner Weite berühren. Die Frische eines Wintermorgens wird uns tief atmen lassen. Wir können uns nach wie vor am Duft des Lebens erfreuen. Das schafft uns Stabilität und Frieden, wenn im Außen alles wirr durcheinander fliegt. Ist das nicht Normalität?

Vor ein paar Tagen gingen wir spazieren. Es war stürmisch und der eiskalte Wind fegte uns um die Ohren. Plötzlich bliebst du zweijähriger Zwerg stehen und schautest zu einem Baum hinauf. Du hobst deine kleinen Schultern und sagtest: „Omi, alle Blätter runtergefallen.“ Nichts hinderte dich in diesem Moment daran, innezuhalten und mir zu zeigen, was dem Baum geschehen war. Genau das meine ich. Sich in der eisigsten Kälte, im lautesten Sturm den Blick für das Wesentliche sowie das eigene Staunen und die Neugier zu bewahren, sollte nicht nur euch Kindern möglich sein.

Heute, am letzten Abend des Jahres, wünschen sich gewiss viele Menschen ein besseres neues Jahr. Sie fürchten sich davor, dass es so weitergehen könnte, wie das alte endet. Sie wollen Veränderung, aber eigentlich auch nicht. Denn letztendlich möchten sie nichts als ihre alte, gewohnte Normalität zurück. Ich denke allerdings, normal ist einzig die Gewissheit, dass sich alles jederzeit verändert und das Leben an sich trotzdem weiter geht. Wer entscheidet, ob und für wen es dann besser ist? Anders wird es sein, nicht unbedingt besser.

Meine kleine Maus, wenn sie dir irgendwann von diesem verrückten Jahr berichten oder du selbst dunkle Zeiten in deinem Leben erfährst, erinnere dich an den Baum, vor dem wir im Dezember 2020 standen. Erinnere dich an dein Unverständnis dafür, wie leer und leblos er dir in diesem Augenblick erschien. Vergiss aber bitte auch nicht meine Worte, als ich mich zu dir hinunter hockte, deinen kleinen Rücken streichelte und sagte: „Ja, die Blätter sind alle abgefallen. Der Baum hat sie verloren. Aber das ist nicht schlimm, denn bald schon wird er wieder ganz viele neue Blätter bekommen.“

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