Wenn Wahrheiten sich nicht bewahrheiten

Da sitzen wir beide nun hier zusammen beim Kaffee und plaudern. Wir lachen sogar ein wenig und tauschen uns aus, was in der letzten Zeit bei jedem so geschehen ist, was uns bewegt. Ja, wir hören uns zu, aber ich dir besonders. Und ich beobachte dich sehr genau dabei.

Du hörst irgendwann auf zu lachen und beginnst wieder davon zu reden… von spirituellen Pfaden, Schamanen, dem Einfluss der Sterne und des Mondes auf dich, von der Heilung deines inneren Kindes, von schwarzer Energie, von Erzengeln und von Göttern. Ich weiß, wovon du sprichst, weil ich eine Zeitlang versucht habe, dir zu folgen. Es hat sich also nichts geändert. Ich sehe, dein Leben läuft immer noch ziemlich orientierungs-, lieb- und erfolglos. Und du? Du suchst unverändert nach den Gründen dafür, nach Schuldigen und nach einem Ausweg aus diesem Dilemma. Dafür hast du dich selbst in fremde Hände abgegeben, vor einigen Jahren schon.

Sogenannte Heiler, Gurus, Astrologen, Wahrsager, Schamanen und das ein oder andere Medium haben in der Zwischenzeit schon ziemlich gut an dir verdient, weil du ihnen die Verantwortung für dich übergeben hast. Sie leben schließlich von deinem Leid und deinem Geld. Sie versprechen dir dafür die Rettung aus eben diesem Leid, sie prognostizieren dir sogar Liebe sowie andauerndes Glück und Erfolg. Alles das, was du vermisst.

Aber schau doch mal, was hat es dir in all den Jahren der Suche gebracht, außer zur Monatsmitte bereits ein leeres Konto? Okay, manchmal geht es dir nach einer Session, einem sogenannten Energieaustausch, dem hundertsten Webinar oder Ähnlichem zwar für eine Weile gut und du posaunst heraus, dass es nun aufwärts geht, aber diese Euphorie hält immer nur kurz an. Und das Loch, in das du anschließend fällst, ist jedesmal tiefer und dunkler als das vorherige und es dauert von Mal zu Mal etwas länger, bis du wieder herausgeklettert kommst. Wenn so das Ergebnis deiner angeblichen Erleuchtung aussieht, bin ich ziemlich froh, dass ich diesen Weg rechtzeitig verlassen habe.

Deine Heiler und Helfer sind allerdings schlau. Sie präsentieren dir Schuldige, so dass du dich nicht selbst reflektieren musst. Sie schicken dir Energien, Engel und Meditationen, welche dich vor diesen Schuldigen und Ihren dunklen Kräften retten sollen. Wenn es nicht klappt, probieren sie es eben mit einer anderen kostspieligen Methode. Das nennt man Kundenbindung, glaube ich.

Und was ist mit der Liebe und dem versprochenen Glück? Schon auf Rechnung schick verpackt geliefert bekommen? Wohl kaum!

Weißt du, auch ich werde überflutet von Unmengen an „Wahrheiten“. Das Netz ist voll damit und geht auch an mir nicht ungesehen vorbei. Aber welche Wahrheit ist wirklich wahr und zu welcher gehöre ich? Es gibt zu Viele, die jeweils IHRE Wahrheit laut verkünden. Dazu gesellen sich auch gerne noch die unzähligen Mitläufer, die Nachahmer, die Trittbrettfahrer, die stumpfsinnigen Ja-Sager und die brav Glaubenden, Folgenden und Dumm-Kommentierenden, die jene Wahrheiten letztendlich unverstanden wiederum für ihre eigenen verkaufen. Wem also soll ich glauben? Woher weißt du, wem du glauben kannst? Ist so ein Glaube nicht auch schon wieder sinnfrei?

Du hast so viele Jahre verschenkt mit deinem Suchen, ohne etwas gefunden zu haben. Stattdessen hast du so viel verloren von deiner Lebensfreude, deinem Humor, deiner Leichtigkeit und deiner Spontanität. Dein Lachen ist so viel weniger geworden, weil für dich nun immer alles einen Sinn machen muss, weil du für alles, was im Leben geschieht, eine Erklärung suchst. Nichts darf mehr ohne ernsthaften Grund oder einfach nur aus Spaß passieren. Das Leben hat aber nur einen einzigen Grund. Es will gelebt werden, mit allem was da so erscheint. Mal laut, mal leise, mal fröhlich, mal traurig, manchmal mit einer ganz eigenen Bedeutung und sehr oft auch einfach nur sinnlos und albern. Dabei ist es bunt und spannend. Es geschieht nun mal und niemand kann eingreifen und es für dich anders gestalten, egal, was sie dir versprechen oder wieviel Geld du ihnen dafür bezahlst.

Ja, ich habe dich sehr genau beim Reden beobachtet und als du an diesem Abend wieder gehst, schaue ich dir ein wenig traurig einen Moment länger hinterher. Während ich die Tür hinter dir schließe, ist mir klar, dass auch ich dich nicht retten kann und es tut ein bisschen weh, dich so zurück in den Strudel derer ziehen lassen zu müssen, die bereits das nächste schwarze Loch für dich graben…

… und dieses wieder einmal tiefer und größer als alle bisherigen.

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