Ich habe einen Traum. Es ist kein Traum, der sich in einer Nacht fertig geträumt hat. Es ist auch kein Traum, der sich am Morgen im Alltag auflöst. Es ist ein Traum, der mich täglich bewegt und antreibt.
Irgendwann begann er als kleine Spinnerei. Ich wollte weg, als ich das Gefühl bekam, hier nicht mehr hinzupassen. Ich fühlte mich erdrückt und eingesperrt in einer Gesellschaft und von Menschen, deren Vorstellungen, sinnlosen Regelungen, unlogischen Verbote, und Lebensansichten mit meinen nicht mehr konform waren. In letzter Zeit hatte ich immer öfter den Eindruck, wie eine Marionette an Fäden in Richtungen bewegt zu werden, in die ich gar nicht will. Aber wohin soll ich, wohin kann ich dem entfliehen?
Mit dieser Frage entstand der Traum vom Abhauen. Ein alter VW Bus sollte es sein, in dem ich ein paar Dinge verstauen und eine Zeit lang unterwegs sein könnte. Er verkörperte den Wunsch nach Unabhängigkeit und Freiheit. Farbe, Aussehen, Alter des Busses waren zunächst völlig egal. Es war ja nur eine Spinnerei.
Aber dann begann jemand mit mir mitzuträumen. Ein zweiter Mensch begeisterte sich für meine Idee. Er riss mich mit, indem er die Konturen meines Traumes bunt ausmalte und ihnen Leben einhauchte. Seitdem verbringen wir zusammen Abende und Nächte, in denen wir den Online-Markt nach dem passenden Gefährt absuchen. Wir entschieden bereits die Ausstattung und die Farbe. Mittlerweile sind wir auf Google auch unsere erste Route, beginnend an der polnischen Ostseeküste und dann weiter Richtung Westen am Meer entlang, gefahren. Wir fuhren aber auch schonmal die Strecke nach Italien ab. Sogar, welchen Grill und welchen Wein wir mitnehmen, steht fest. Die Feinheiten des Traums werden gefeilt.
Es mag verrückt klingen, aber ich habe mir in meiner Wohnung Punkte geschaffen, die mich ständig an diesen Traum erinnern, damit ich ihn im Lärm des Alltags niemals vergesse. Ein Mini-Bulli schmückt meine Kommode im Flur. An den Strand des Leinwandbildes von der Ostsee habe ich einen VW Bus geklebt. Über meinem Schreibtisch hängen ein Foto des Busses, den ich bereits mit einem Bildbearbeitungsprogramm entsprechend beschriftet habe, und auch mein Führerschein. Denn selbst, wenn ich seit Jahren kein Auto mehr bewegt habe, möchte ich diesen Bulli doch so gerne allein fahren. Neulich habe ich eine kleine Reisetasche dazugestellt. Dort packe ich mittlerweile die ersten kleinen Dinge ein, die ich auf unserer Reise mitnehmen werde. Sie gibt mir das Gefühl, dass ich jederzeit einfach losfahren kann.
Es ist ein Geschenk, auf dieser Reise und in diesem etwas verrückten Traum nicht allein unterwegs zu sein. Ich teile all das mit jemandem, der genau wie ich bereit ist, sich von Dingen und Gegebenheiten loszulösen. Mit mir wird jemand Sonnenunter- und -aufgänge aufsaugen, dem ebenso egal ist, wo wir am nächsten Tag sein werden. Ich kann kaum erwarten, mit ihm an Orte zu kommen, von denen ich bisher gehört habe, aber an denen ich noch nie gewesen bin. Ich freue mich auf Sonne, auf Wind, auf Regen und auf Wolken über mir. Ich fiebere der Zeitlosigkeit entgegen, mit der wir unterwegs sein werden und ich spüre das Lebensgefühl, welches mir dieser Bus geben wird.
Ja, die Preise für diese alten restaurierten T1 Camper bewegen sich in Höhen, die wir zwei Träumer zurzeit überhaupt nicht erreichen können. Trotzdem haben wir uns schon erkundigt, wie wir unser Traumfahrzeug aus einem Online-Inserat aus Belgien abholen können. Denn wir glauben daran, dass es Wunder gibt und wir eines Tages losfahren werden. Nein, es ist gar kein Glaube. Wir sprechen nie davon, wie es sein könnte. Wir reden davon, wie es sein wird.
Ich lebe nun für diesen Traum, jeden Tag. Er sitzt so tief und brennt in mir manchmal so stark, dass ich Bauchschmerzen bekomme. Die Sehnsucht treibt auch hin und wieder ein paar Tränen in die Augen. Aber es sind keine Tränen der Traurigkeit, weil immer noch keine Lösung zur Verwirklichung da ist. Es ist Vorfreude, unglaubliche Vorfreude auf diesen Tag, an dem wir beide einsteigen und losfahren werden.
Aber auch, wenn ich mir verdammt sicher bin, dass wir eines Tages zusammen lachend auf einer Landstraße im roten VW Bus unterwegs sein werden, erwischt mich in stillen Momenten die Sorge, dass unsere Zeit nicht reichen könnte, um den gemeinsamen Traum zu verwirklichen. Wir sind nicht mehr so jung und mein Mitträumer ist sehr krank. Werden rechtzeitig von irgendwoher die Mittel und Möglichkeiten auftauchen, um aus dem Traum aufzuwachen und ihn in Wirklichkeit zu leben? Ich weiß es nicht. Ich träume ja schließlich nur.
Meine Zeit hier ist begrenzt und vielleicht werde ich diesen so wahnsinnig großen Traum eines Tages dorthin mitnehmen müssen, wo es keiner Träume mehr bedarf. Aber, wenn das geschieht, werde ich mich vielleicht ein letztes Mal lächelnd an unsere strahlenden Augen in den zahllosen Nächten des Träumens erinnern und an all die Orte, an die unser Bulli uns brachte…
… ohne dass ich sie jemals sah.