Tränen einer Mutter

Wir Mütter stecken wohl immer in Selbstzweifeln. Sind unsere Kinder klein, fragen wir uns, ob wir sie auch gut genug auf das Leben vorbereiten. Sind sie erwachsen, hinterfragen wir, ob wir vielleicht doch etwas falsch gemacht und auf mancher Linie versagt haben. So ging es viele Jahre auch mir.

Mein Sohn steckte mitten in der Pupertät, als er mir „entglitt“. Ein paar Jahre vorher hatte ich mich von seinem Vater getrennt, einem Alkoholiker. Ich hatte es auch für meine Kinder getan. Es war schwer, nun Mutter und auch Vater für ihn zu sein. Irgendwann mit 14/15 Jahren hatte mein Sohn keine Lust mehr auf die Schule. Und wenn er doch für ein paar Stunden dorthin ging, betrank er sich manchmal voher mit anderen. Irgendwann kam ein Mädchen ins Spiel, in einer anderen Stadt. Nun war gar nicht mehr an Schule und Familie zu denken. Er fuhr hin und her, so wie es ihm gefiel und ich bekam die Briefe der Deutschen Bahn mit den Geldstrafen fürs Schwarzfahren. Mein Junge kam und ging, wann er wollte. Die Schule verließ er ohne Abschluss. Für dieses Leben, welches er führte, brauchte er Geld. Ich konnte seine Reisen und den Alkohol, an dem er scheinbar Geschmack gefunden hatte, nicht finanzieren. Wir lebten zu der Zeit von Sozialleistungen. Doch hiervon legte ich jede 2-Euro-Münze beiseite. Zu Weihnachten konnte ich so den Kindern Geschenke, Festtagsessen und einen Tannenbaum bieten. Aber eines Tages kam ich nach Hause und mein Sohn hatte auch meine Reserven geplündert. Damit war er auf und davon. Ich war so wahnsinnig enttäuscht. In dieser Zeit stritten wir ständig. Die Türen flogen, wir schrien uns böse Worte zu und ich weinte sehr viel. Ich hatte so große Angst um meinen Jungen, war hilf- und ratlos. Was sollte aus ihm werden? Wohin führte sein Weg?

In meiner größten Verzweiflung holte ich mir Hilfe. Diese Hilfe sah vor, dass mein Sohn die Stadt verließ und unter der Obhut der Behörden eine eigene Wohnung in der Fremde bezog. Das warf mich zu Boden. Wie sollte ich ihm dort helfen und vielleicht doch noch auf den richtigen Weg bringen können? Wie sollte ich nun erfahren, wie es ihm geht? Was würde mit meinem kleinen Jungen geschehen? Es fühlte sich an, als wenn man mir einen Teil meines Körpers abriss. Aber er ging. Heute behaupte ich, dass es das Beste war, was uns beiden passieren konnte. Ich weinte weniger und ging abends endlich wieder ohne den Wunsch, morgens nicht mehr aufwachen zu müssen, ins Bett. Ich besuchte ihn manchmal und musste ihn auch wieder allein lassen. Das fiel mir immer noch sehr schwer.

Mein Sohn begann dort, wo er nun war, Musik zu machen. Er entpuppte sich als begeisterter Rapper. Auch, wenn diese Musikrichtung nicht meine war, freute ich mich, dass er etwas gefunden hatte, was ihm Freude machte. Bei einem seiner Besuche zuhause, schenkte er mir eine CD. Er bestand allerdings darauf, dass ich sie erst höre, wenn er wieder fort ist. Das tat ich. Es war ein Rap für mich. Mein Junge entschuldigte sich darin für die schwere Zeit, die wir hatten. Zeilen wie „Ich möchte dich nie wieder in der Küche weinen sehen. Möchte mit dir als Mutter und Sohn durchs Leben gehen.“ „Es tut mir leid. Es war nicht so gemeint…“ berührten mich und schon weinte ich wieder wegen meines Kindes. Diesmal nur anders. Sein „Wenn ich eines Tages viel Geld habe, werde ich dir deine Wünsche erfüllen.“ zauberte mir dabei aber auch ein Lächeln ins Gesicht.

Mein Sohn kam irgendwann zurück. Er hatte das Leben und auch die Liebe in der anderen Stadt nicht geschafft. Wieder war er gefallen. Ich erlaubte ihm, erneut bei mir zu wohnen, allerdings nur, wenn und bis er seinen Schulabschluss nachholte. Es begannen wieder Reibereien, Streits und laute Meinungsverschiedenheiten. Aber ich hielt durch und er auch. Als er den Schulabschluss auf dem Papier hatte, suchte ich ihm sofort eine Wohnung. Ohne, dass er sie selbst gesehen hatte, unterschrieb er den Mietvertrag. Ich warf ihn quasi raus.

Von nun an, ließ ich ihm sein Leben. Natürlich war ich da, wenn er Hilfe brauchte. Ich gab ihm Unterstützung und Rat. Nur leben, dass musste er jetzt allein hinbekommen.

Mein Sohn ist mittlerweile verheiratet und hat seine eigene kleine Familie. Nein, beständig ist sein Leben immer noch nicht. Aber seine Musik ist ihm geblieben. Musik, in der er immer noch jene Zeiten beschreibt, in denen er mutig und allein drauflos ging, in denen er aber auch hart fiel und Wunden davon trug.

Ich habe mich oft gefragt, an welcher Stelle ich versagt habe. Was hatte gefehlt, dass wir beide diesen schwierigen Weg gehen und dabei ganz unterschiedlich Kummer, Schmerz und Ohnmacht erfahren mussten? Was hätte ich anders machen können? Vielleicht nichts. Vielleicht alles. Nur eines konnte ich immer wieder tun. An seiner Seite bleiben. Er wusste und weiß, dass ich da bin, auch, wenn ich nicht alle seine Wege befürworte. Ich denke, wir müssen unseren Kindern ihre eigenen Erfahrungen zugestehen, auch wenn uns ihre Entscheidungen manchmal nicht gefallen oder sogar weh tun. Dabei sollten sie aber stets wissen, dass sie immer nach Hause kommen können, wenn sie sich verlaufen haben.

Vergangene Weihnachten bekam ich ein Geschenk von meinem Sohn. In einem ausgehöhlten Buch lag eine kleine bunte Tüte. Darin befand sich Geld, viel Geld. Dabei lag eine kleine Karte.

„Liebe Mutti, es ist der Zeitpunkt gekommen, an dem du deine Geschichten erzählst, deine Gedanken, Gefühle und alles, was dir auf dem Herzen liegt. All das, was du mit vielen Menschen auf Facebook und Instagram bereits teilst. Du hast Jenny und mich großgezogen. Deine Wünsche und Träume sind dabei immer auf der Strecke geblieben, um uns unsere zu erfüllen. Du hast viel zu lange wegen uns zurückgesteckt. Dafür sind wir dir auf ewig dankbar. Dankbar dafür, dass du uns all deine Lebenskraft, Erfahrung und Liebe mit auf den Weg gegeben hast. Es ist das Mindeste, dass wir dich jetzt dabei begleiten, deine Träume und Wünsche zu erfüllen. Du hast mir vor einiger Zeit erzählt, dass du ein Buch veröffentlichen willst, worauf ich als Sohn mächtig stolz bin. Nutze den Inhalt in diesem Umschlag für deine Träume und starte mit deinem ersten Buch so richtig durch. Ich wünsche dir, dass es ein Buch wird, mit dem du viele Menschen erreichst und berührst. Ich hab dich lieb.“

Mein Sohn finanzierte mir mit seinem Geschenk den Vertrag mit einem Verlag. Er ermöglichte mir damit Werbemaßnahmen für mein Buch, für meinen größten Traum. Als ich die Zeilen las, erinnerte ich mich an seinen damaligen Mutti-Rap. Daran, dass er mir irgendwann meine Wünsche erfüllen würde. Weihnachten mussste ich wieder wegen meines Sohnes weinen. Aber es waren diesmal keine Tränen der Sorge und der Angst. Es waren Tränen der Liebe und Ergriffenheit, der Dankbarkeit für zwei wundervolle Kinder. Und es waren Tränen der Erleichterung, die all meine Selbstzweifel wegspülten. Denn vielleicht hatte ich gar nichts verkehrt gemacht.

Vielleicht brauchte es einfach nur verdammt viel Zeit, um uns gegenseitig zu verstehen und zu verzeihen.

https://youtu.be/07LI4NtElW0

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