Stark sein

Heute Nacht lag ich lange wach. Ich hatte mir die Bettdecke unter das Kinn gezogen und war einfach nur traurig. Dabei habe ich an unser Gespräch neulich gedacht. Wir hatten uns sehr lange nicht mehr gesehen und du erzähltest von deinen Schicksalsschlägen während dieser Zeit. Am Ende sagtest du, dass du mir in den Social Medien folgst. Du nanntest mich dein Vorbild, redest von meinem Selbstbewusstsein und sowas wie meiner Stärke.

Nein Süße, ich bin nicht so stark, wie du glaubst. Nicht stärker oder selbstbewusster als du. Oder ist es stark, sich nachts unter der Bettdecke zu verkriechen und das, was einen bewegt, mit sich selbst auszumachen?

Weißt du, ich hatte gestern einen wunderbaren Tag mit Menschen, die ich sehr gerne habe. Aber plötzlich wurde ich von einem kurzen Wortaustausch, welcher noch nicht einmal mir persönlich galt, getroffen. Es traf mich so tief, dass ich vor Schmerz hätte aufschreien können. Was wäre in solch einem Moment stark gewesen? Ich jedenfalls verließ wortlos für einen winzigen Augenblick die Situation. In mir drin hörte ich ein kurzes Klirren, so als wenn hauchdünnes Glas zerspringt, einfach kaputt geht. Und die Scherben taten weh. Nachdem ich mich etwas gefangen hatte, ging ich zurück in die Situation und lächelte, so als wäre nichts gewesen. Tja, selbst als das Gesprächsthema ein weiteres Mal aufkam.

Ich hatte den Eindruck, niemand hatte beim ersten Mal wahrgenommen, was mit mir passiert war. Keiner von meinen Gegenübern konnte mich und das Zerspringen von Etwas in mir hören oder spüren. Wie hätte sich wahre Stärke und Selbstbewusstsein in diesem Moment gezeigt? Verbal in die Offensive zu gehen, um sich nicht noch ein zweites Mal wehtun zu lassen? Einfach sagen, dass man dieses Gesprächsthema nicht mag? Oder war es stark, sich in dieser Situation und anschließend nachts ganz allein in seiner eigenen Dunkelheit und dem Schmerz zurechtzufinden, um diesen schönen Tag sich und anderen nicht mit der eigenen Verletzbarkeit zu verderben?

Was du vielleicht als stark und selbstbewusst siehst, ist ein Rückzug. Das mache ich immer so, wenn mich etwas verletzt, sehr traurig macht oder wenn es für mich einfach nichts mehr zu sagen gibt. Selbst wenn ich physisch noch anwesend bin, ziehe ich mich innerlich zurück. Ich mag meine eigene Betroffenheit nicht auf jene übertragen, welche mich offensichtlich gar nicht sehen und verstehen können oder wollen.

Nein Süße, ich strotze nicht vor Stärke und Selbstvertrauen oder -bewusstsein. Im Gegenteil. Ich sah mich letzte Nacht hilflos, ungesehen und unverstanden, mein Fühlen und meine Sensibilität für einen Augenblich von anderen vollkommen ignoriert. Ob es wirklich so war, weiß ich nicht. Vielleicht wurde ich doch wahrgenommen, war aber mit meinem Schmerz in dem Moment selbst zu beschäftigt, um es zu bemerken.

Ist es gerade das, was du als stark siehst und was nicht jeder vermag? Nämlich sich immer erst selbst zu reflektieren und zu hinterfragen. Ich habe wieder einmal erfahren, dass nicht jeder Mensch das Gespür für eine Situation oder einen anderen Menschen hat. Das kann ich auch nicht erwarten. Erst recht kann ich ihnen deshalb auch nicht die Verantwortung für mein Fühlen überstülpen. Lieber stolpere ich allein über riesige Felsblöcke aus Tränen und Traurigkeit in meiner Dunkelheit und meinem Gefühl orientierungslos herum. Irgendwann wird es auch wieder hell und die Scherben sind dann beiseite geräumt.  

Bin ich nun stark? Nun ja, vielleicht doch ein wenig. Denn schließlich zieht sich eine Löwin, die täglich gelassen, aufmerksam und in Eigenverantwortung, durch ihr Revier streift, auch bei Schmerz und Verletzung ohne lautes Gebrüll zurück… so lange, bis sie sich selbst geheilt hat.   

2 Antworten auf „Stark sein“

Kommentar verfassen