11 Stunden positiv

Es war Routine als ich mich vor kurzem morgens im Büro testete, um nachzuweisen, dass ich gesund die Räumlichkeiten betreten hatte. Das Plastikteilchen legte ich anschließend wie gewohnt auf den Empfangstresen, damit die Kollegin es dann prüfen und bestätigen konnte. Ich begann mit meiner Arbeit. Auch wie gewohnt.

Nach ca. 15 Minuten hörte ich meine Kollegin verunsichert: „Dana, ich will ja nichts sagen, aber dein Test…“ Ich ging zum Tresen und stellte fest, dass sich diesmal zwei Streifen gefärbt hatten. Nun gut, ich hatte gerade eine ziemlich miese Erkältung hinter mir, aber mein eigenes Körpergefühl sagte, dass ich diese mittlerweile überstanden hatte. Der Test konnte nicht stimmen. Und nun? Ich schaute meine Kollegin fragend an, die ebenfalls ratlos schien. Und ängstlich. Ja, ich spürte ihre Angst. Um ihr die Unsicherheit zu nehmen, erklärte ich mich bereit, einen zweiten Test zu machen. Einige Minuten später: Negativ. Die Sache sollte damit eigentlich geklärt gewesen sein. War sie aber nicht. Die Chance, dass ich für andere nicht gefährlich bin, stand ja nun 50:50. Widerwillig, aber um den Kollegen ihre Angst zu nehmen, schob ich mir an diesem Morgen ein drittes Mal ein Stäbchen in die Nase. Nach einigen Minuten: Negativ. Für mich war die Angelegenheit damit eigentlich erledigt. Für das Kollegium allerdings nicht. Der Raum hatte sich bis unter die Decke mit Angst gefüllt. Ich konnte sie förmlich riechen. Also bot ich an, zu meinem Hausarzt zu laufen, damit dieser mich dann „richtig“ testen und das Labor offiziell bestätigen konnte, was oder was nicht mit mir los war.

Als ich vom Arzt zurück ins Büro kam, ließ man mich nicht mehr so hinein, wie ich gegangen war. Die Kollegin, nun mit Maske, gab mir durch die Glaseingangstür zu verstehen, dass auch mir erst nach Aufsetzen einer Maske die Tür geöffnet werden würde. Das wirkte so absurd, denn schließlich hatte ich ja bereits einige Zeit an diesem Morgen, Mund und Nase unbedeckt, im Büro verbracht. Aber gut, ich setzte die Maske auf. Bevor ich mich an meinen Schreibtisch setzen konnte, wurde mir gesagt, dass ich mich nicht mehr in den Räumlichkeiten bewegen solle. Stattdessen war der Computer herunterzufahren und ich müsse das Büro verlassen. Mein Chef hatte offensichtlich während meines kurzen Arztbesuches den Geschäftssitz am anderen Ende der Republik über den ersten Test (die beiden weiteren scheinbar nicht) informiert. Bevor ich gehorsam der Computer ausschalten konnte, erreichte mich nämlich von dort noch eine E-Mail mit der Anweisung, mich sofort in die Isolation zu begeben. Zudem wurde mir mitgeteilt, welche Nachweise man von mir benötige, damit ich wieder im Büro arbeiten dürfe.

Bevor ich mich vertreiben ließ, bat ich meine Kollegin am Empfang um das Ausstellen einer Negativ-Bescheinigung, damit ich mit dem Bus nach Hause fahren konnte. Mit meinem Meniskusriss konnte ich zwar eine Weile laufen, aber an diesem Morgen hatte ich bereits einige Kilometer zurückgelegt und das Bein schmerzte höllisch. Zudem regnete es mittlerweile. Statt einer Antwort erhielt ich einen verunsicherten und hilflosen Blick. Und wieder schlug mir Angst entgegen. Die Angst, etwas zu tun, was sie nicht tun dürfe, und sich damit womöglich gegen Anweisungen und Regelungen zu widersetzen. Für mich war klar, dass zwei negative Tests ausreichen sollten, um mir diesen dämlichen Zettel auszufertigen. Ich weiß heute nicht, ob die Kollegin mir vielleicht doch noch einen ausgestellt hätte. Ihr Blick hatte gereicht, dass ich einfach ging.

Jeden, der jetzt sagt, die Szenerie an diesem Vormittag wäre korrekt abgelaufen, möchte ich fragen, ob er sich vorstellen kann, wie man sich dabei fühlt.

Ich selbst musste mich auf dem Heimweg zusammenreißen, um nicht zu weinen. Menschen hatten Angst vor mir. Und in ihrer Angst hatten sie mich wie ein krankes wildes Tier weggetreten, einfach hinausgejagt. Mein Schmerz war ihnen egal. Wie ich zurechtkomme, war ihnen egal. Ob ich tatsächlich krank bin, war ihnen egal. Ich sollte einfach nur weg sein. Weg von ihnen. Ich kann kaum beschreiben, wie sich so etwas anfühlt. Plötzlich ist man nichts mehr wert. Man ist kein gleichwertiger Mensch, keine Mitarbeiterin, keine Kollegin, sondern nur noch eine Gefahr, die mit allen Mitteln gebannt werden muss. Das macht wirklich unsagbar traurig in so einem Moment.

Ich hatte das Gefühl, dass fremde Angst und Panik sich wie Kletten an mir festgesetzt hatten. Deshalb zog ich nicht einmal die Kapuze meines Mantels über den Kopf, als ich mit schmerzendem Bein langsam nach Hause ging. Der Regen sollte all das wegspülen. Denn es war nicht meins. Es waren nicht meine Ängste. Es waren ihre. Ich war lediglich ungewollt zur Projektionsfläche dieser geworden. Die eigenen schlechten Gefühle und Emotionen hatte man auf mich projiziert und ausgelebt.

Der Irrsinn, einem knapp 3-Euro-teuren Plastikteil so viel Bedeutung beizumessen, dass man einen anderen Menschen allein lässt, ihn regelrecht auffordert, sich zu isolieren, macht mir wiederrum Angst. Und ich mag mir gar nicht vorstellen, wie es Kindern vor ihren Freunden in der Kita oder den Schulkameraden in der Schule gehen mag, wenn sie in meine Situation geraten und genauso behandelt werden (müssen). Was macht das mit ihnen, aber auch mit uns? Wo bleibt in dieser Zeit der Mensch? Wohin hat sich die Menschlichkeit vertreiben lassen? Wäre es nicht wichtiger unsere eigenen Ängste zu hinterfragen, herauszufinden, woher sie eigentlich kommen und ihnen nicht so viel Macht über unser Miteinander zu geben? Ich habe seit diesem Tag sehr viele Fragen im Kopf.

Gegen 19 Uhr erhielt ich an jenem Abend übrigens den Laborbefund. Negativ. Im Kleingedruckten: „Ein negatives PCR-Ergebnis schließt die Möglichkeit einer Infektion nicht vollständig aus.“ Mit dieser Bestätigung durfte ich dann allerdings trotzdem wieder arbeiten. Ich bekam damit sozusagen die Erlaubnis, in die Gesellschaft zurückzukehren.

Nach 11 Stunden Positiv – Erfahrung, bin ich mir aber nicht mehr sicher, ob ich das jemals wieder will.   

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