Freier Fall

Auch ich bin endlich im neuen Jahr angekommen. Nicht so, wie gewünscht. Bin eher hineingefallen. Das lag daran, dass das Ende des vergangenen Jahres mir noch einige Erfahrungen mitgeben wollte.

Begonnen hatte es Mitte Oktober mit einem Meniskusriss. Diagnostiziert wurde er allerdings erst 7 Wochen später. Höllenschmerzen bei jedem Schritt. Die Heilung langwierig.

Dann tat das Herz weh. Still, schweigend, ohnmächtig, unendlich traurig. Eine Verletzung eben, die nicht zu sehen ist, weil man sie sehr gut versteckt.

In dieser illustren Runde verschaffte sich der Verrat auch noch seinen Platz. Das Wertvollste, was ich mit einem anderen Menschen teilte, nämlich bedingungsloses Vertrauen, wurde mit Füßen getreten. Bloßgestellt und in Gemeinschaft für die intimsten Gedanken und Emotionen ausgelacht zu werden, ist ein Schmerz, der für mich so viel schwerer zu ertragen ist als der körperliche.

Dann, am Heiligabend, wurde mir ein Brief meiner Ärztin beschert. Ein positiver Befund als Fast-Diagnose, die nun bis zum nächsten Termin im Raum steht und mir wirklich große Angst macht. 

Zu guter Letzt raubte mir zwischen den Feiertagen ein fiebriger Infekt die noch verbliebenen Kräfte und zwang mich in die Knie.

Ich fühlte mich zum Ende des Jahres wie im freien Fall. Unter meinen Füßen tat sich der Boden auf. Da gab es nichts mehr, was mich hielt. In meinem Kopf, meinem Herzen und meinem Körper tat nur noch alles weh. Es gibt während so eines Falles auch kaum etwas, woran man sich festhalten könnte. Natürlich schaut man nach Händen, die man greifen kann. Vor allem nach den Händen, welche zu den Mündern gehören, die einst versprachen, für einen da zu sein. Wenn das eigene Fallen aber gerade nicht in deren Lebensplan passt, greift man ins Leere, quasi in leere Versprechungen.

Ich habe viel geweint in der letzten Zeit und auch viel gefroren, denn es ist verdammt kalt in diesem Sog aus Hilflosigkeit, Ent-täuschung und Schmerz, der einen nach unten zieht. Zum Glück trug ich meinen Lieblingsmantel, genäht aus vielen kleinen und großen Erinnerungen. Diese wärmten mich während meines Falles durch all ihre Momente und Augenblicke, für welche ich in meinem bisherigen Leben Feuer und Flamme war, für die ich lichterloh brannte.

Als ich so ungebremst fiel, fragte ich mich natürlich, wann und wo ich zu wenig auf mich geachtet hatte. Wo war ich verkehrt abgebogen? An welchen Stationen der vergangenen Jahre hätte ich besser um- oder sogar aussteigen sollen?  Wo wäre weniger für mein emotionales Gefüge aber auch für meinen Körper womöglich besser gewesen? Was hatte ich falsch gemacht?

Ja, ich esse unregelmäßig und meist nur, was der Kühlschrank aufgrund meiner Einkaufsfaulheit so hergibt. Ich trinke nie genug, es sei denn, ich feiere gerade das Leben und den Moment. Dann trinke ich ausreichend, allerdings am liebsten Rotwein und dabei qualme ich auch noch wie ein Schornstein. Meinem alternden und mittlerweile ständig nörgelnden Rücken täte eine orthopädische Matratze wohl besser als die unbequemen Nächte an Ufern der Seen oder Stränden am Meer während der Sommermonate. Manchmal konsumiere ich verbotene Substanzen. Sie lindern Schmerzen und entmüllen meinen Geist. Dass dieser so unglaublich frei und scheinbar ohne Begrenzung daherkommt, ist für mich auch nicht immer einfach.  Schließlich sieht er nie die Unmöglichkeiten im Leben, sondern immer nur, was möglich ist. Er treibt mich ständig an, meinen unbändigen Lebenshunger zu stillen, meist ohne Plan und nicht immer vernünftig. Sollte ich den Spaß und die Freude am Leben wirklich unter die Vernunft stellen? Ist es nötig, vor jeder Idee sämtliche Risiken und Konsequenzen abzuwägen?

Dasselbe frage ich mich im Hinblick auf Gefühle und Emotionen. Muss ich mir zum eigenen Schutz einen Schalter zulegen, mit dem ich meine Sensibilität und mein Fühlen regulieren, vielleicht sogar an- oder abschalten kann? Ist es möglich, einen anderen Menschen nur halb zu lieben oder ihm tatsächlich nur ein Drittel zu vertrauen? Muss ich lügen oder schweigen, um andere mit meinen Emotionen nicht zu sehr zu treffen oder zu berühren?

Ich kann das alles nicht. Wenn ich das Leben feiere, dann mit voller Hingabe. Wenn ich liebe, dann immer mit geballter Wucht, vollstem Vertrauen und Ehrlichkeit. Ich kann keine halben oder vorsichtigen Sachen. Das will ich auch gar nicht.

Aber genau deswegen lieg ich nun hier. Ich bin im neuen Jahr hart aufgeschlagen. Dennoch spüre ich allmählich wieder den Boden unter mir. Vielleicht muss ich noch ein Weilchen liegen bleiben und meine Wunden lecken, bevor ich wieder aufstehe. So lange kuschele ich mich eben einfach in meinen wunderschönen Mantel. Und während ich so an mir herunterschaue und ihn bestaune, muss ich lächeln. Ich habe nichts verkehrt gemacht. Es gibt nichts zu bereuen. Jeder Moment war total richtig gelebt, egal wie unvernünftig er war. Sonst wäre mein wärmender Mantel schließlich nicht so leuchtend bunt und passend, wie er es gerade ist. Andernfalls hätte ich jetzt vielleicht nichts, was mich beim Fallen wärmt und bleibt, wenn gerade nichts mehr bleibt. 

Natürlich werde ich wieder aufstehen. Mein Geist und meine Lebenslust werden mir auf die Beine helfen. Ich weiß nicht, welche Narben bleiben. Ich weiß auch nicht, in welche Richtung es für mich gehen wird. Aber ich weiß, dass es immer irgendwie weitergeht. So oder so. Und darauf freue ich mich,…

… denn das Nähen habe ich mittlerweile gelernt und man sollte doch schließlich immer noch einen weiteren Mantel besitzen.

Und manchmal drückt Musik in ein paar Minuten genau das aus, was ich in vielen Worten zu beschreiben versuche:

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