Geschenk der Selbstreflexion

So traf ich also vor langer Zeit auf einen Mann, der sich seiner Erhabenheit und seiner Allwissenheit sicher war. Du warst der Mann, der weder Zweifel noch Widerspruch duldete und seine in Form gebrachte Perfektion ständig öffentlich streichelte und streicheln ließ. Du rekeltest dich in spiritueller Gemeinschaft, scheinbar frei von Kampf, Unbeholfenheit und Schmerz. Durch Distanz, menschliche Kälte und Unberührtheit fühltest du dich vor dem wilden Durcheinander des Lebens so wunderbar geschützt, abgegrenzt von den Freuden und Schmerzen intimer, unordentlicher und erdiger menschlicher Beziehungen. Es gab für dich nie Verzeihen oder eigene Fehler. Laut überranntest du mit deiner verbalen Wut Mitgefühl, Zuneigung, Wärme und Liebe. In Wirklichkeit ranntest du damit allerdings deinem Selbst davon, deiner Menschlich- und Lebendigkeit.

Wann begann dein Verzeihen dir selbst und anderen gegenüber? Wann hattest du keine Kraft mehr, das selbstverherrlichende Bühnenbild aufrechtzuerhalten? Wann wurde dir bewusst, dass auch du nicht fehlerfrei und allwissend bist und deine eigene Unvollkommenheit dich vielleicht um vieles mehr vollkommen macht?

Jetzt stehst du, scheinbar in Demut gefallen, vor mir. Du sagst, du lebtest bisher Anerkennung ohne Liebe, obwohl du so oft von ihr sprachst. Du tanztest in vielen Feuern ohne Wärme, triebst Sex ohne Leidenschaft. Du bezeichnest dich selbst als rau und unmenschlich, gefühllos und fernab von Scham. Plötzlich erkennst du in wahrer Selbstreflexion deinen ehemals traurigen Zustand. Du gibst zu, dass hinter all dem deine Seele schrie. Sie rief, vor Schmerzen gekrümmt, nach Hilfe.

Aber weißt du was? Du bist nicht in Demut gefallen. Du bist dorthin aufgestiegen und es war mir ein Vergnügen, dich auf diesem Weg bis hierher begleiten zu dürfen. Denn das, was du heute reflektierst, sah ich damals, vor all den Jahren, bereits in dir. Ich sah durch deine Augen in deine Seele. Deine Zweifel und Sehnsüchte, deine Ängste und deine Hilflosigkeit konnte ich spüren. Deine Schreie vernahm ich dort, wo du aufhörtest zu reden und deine anstrengende Suche sah ich dort, wo du aus meinem Sichtfeld gingst. Wenn man aufhört, eine polierte Oberfläche zu bewerten, wenn man zuhört, statt immer nur selbst zu reden und man sich traut, einem Eisklotz immer wieder warm und liebevoll zu begegnen, sieht man womöglich, was man gar nicht sehen soll, weil es so vehement unter dem Mantel der Überheblichkeit verborgen gehalten wird.

Deiner Lautstärke, deinem Brüllen und deinem Aufbäumen begegnete ich deshalb ausschließlich mit Liebe. Dagegen konntest du gar nichts tun, egal, wie angestrengt du es versuchtest. Ich verfiel nie in Ehrfurcht oder Angst vor dir. Nie. Und trotzdem war es manches Mal eine Herausforderung, an deiner Kälte und Selbstgefälligkeit nicht zu zerbrechen und stattdessen einfach in deiner Nähe zu bleiben.  

Aber dir heute zuzuhören, wie du dich selbst erkennst, deine eigene Hilflosigkeit, deinen Schmerz und deine Trauer annimmst, aber auch, wie du deine Lebensfreude und Lebendigkeit feierst, berührt mich manchmal sehr. Dein „Ich habe keine Antworten. Ich bin gerade genauso hilflos wie du, meine Liebe.“ ist die Annahme und das Zugeständnis deines eigenen Unperfekt-Seins.

Nein, du wirst diesen empathielosen Checker und Klugscheißer, der du warst, nie ganz loswerden. Das musst du auch nicht. Er wird dich nämlich vor Menschen schützen, welche dir mit scharfen Messern in deine Weichheit und Verletzlichkeit zu stechen versuchen. Er wird sich aber auch ganz von selbst dort niederlegen, wo du dir sicher sein kannst, dass dein Menschsein gesehen, verstanden und geliebt wird. Ganz gleich wie unvollkommen es – wie unvollkommen du – sein magst.

Es ist mir tatsächlich eine große Freude, dass du dich heute endlich selbst so sehen und auch annehmen kannst, wie ich dich schon immer sah…

… und dass du mich an deinem Weg, deinem Geschenk, teilhaben ließest.

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