Neun Minuten Abschied

Nun ist es schon fast ein halbes Jahr her. Ich saß an diesem Montagvormittag im Büro bei der Arbeit, als deine Nachricht auf meinem Handy ankam. Es war eine Sprachnachricht und sie war neun Minuten lang. Ich schob das Telefon beiseite und entschied, mir die Nachricht in der Mittagspause anzuhören. Aber plötzlich hielt ich inne. Du bist kein Freund langer Konversationen. Manchmal dauert es Tage, bis du eine meiner Nachrichten mit wenigen Worten beantwortest. Irgendetwas stimmte nicht. Deshalb steckte ich mir die Kopfhörer ins Ohr und begann zu hören.

Nach deinen ersten Sätzen fiel ich in meinen Bürostuhl zurück. Ich war erschrocken. Du, ein Mann Anfang 40, weintest und es war schwer, dich zu verstehen. Aber während du leise sprachst und noch versuchtest zu erklären, wusste ich bereits genau, was du zum Ende der neun Minuten sagen wolltest. Es sollte ein Abschied werden. Ich hörte dir zu und Tränen stiegen mir in die Augen. Die Fassungslosigkeit schlug mir meine Hand vor den Mund, denn ich konnte nicht glauben, was du da sagtest. Du wolltest jetzt losfahren und bei 150 km/h den Lenker deines Motorrades loslassen.

Seit diesem Montag fragte ich mich, ob ich etwas übersehen hatte. Nein, das hatte ich nicht. Wenn ich dich im letzten Sommer zufällig traf, fiel mir auf, dass du schlecht aussahst. Aber ich habe dein „Es geht mir gut.“ ohne nachzufragen hingenommen. Ich hatte das Gefühl, du wolltest nicht reden und würdest schon klarkommen. Da war auch dieser Sommerabend am See. Während ich noch mit einem Freund zwischen den Büschen am Wasser saß, sah ich dich ins Wasser gehen. Du schwammst mutterseelenallein in der Abendsonne hinaus, so weit, dass ich aufstehen musste, um dich noch sehen zu können. Viel zu weit! Als du zurückkamst, war ich wütend. Das Ufer war doch menschenleer und niemand hätte helfen können, wenn dir etwas passiert wäre. Heute weiß ich, dass du absichtlich so weit hinaus geschwommen bist, weil du hofftest, dass deine Kräfte dich verlassen und der See dich dann unbemerkt verschlucken würde. Allerdings hat er dich doch wieder zurückgebracht.

Weißt du, auch ich habe im Leben schon Zeiten gehabt, in denen ich abends mit dem Wunsch zu Bett ging, morgens nicht mehr aufwachen zu müssen. Wenn das Leben seine gewohnten Bahnen verlässt und uns zu Boden drückt, kann es passieren, dass wir keine Kraft mehr haben. Jedoch habe ich nach solchen Nächten immer wieder den Sonnenaufgang erlebt. Und ich bin sehr froh und dankbar dafür, denn ich durfte danach noch so viele wunderbare Zeiten, Momente, Augenblicke erleben.

Du dachtest, es geht nicht mehr weiter und hast ganz laut und verzweifelt in deiner stillen Nachricht geschrien, an diesem Montagvormittag im Oktober. Das war gut, denn nur so konnte ich dich wirklich hören. Wenige Minuten nach diesem Schrei, griffen meine und weitere Hände nach dir, um dich festzuhalten, bevor dich der Strudel der Hilflosigkeit komplett hinunterziehen konnte.

Ein halbes Jahr ist seit diesem Tag vergangen. Nein, wir haben dein Leben noch nicht gemeinsam wieder so herrichten können, wie es war. Vielleicht wird es auch nie wieder so werden. Aber, hey, dann wird es eben anders. Mit etwas Glück eventuell sogar noch schöner. Die Hauptsache ist doch, dass auch du jeden Morgen wieder mit dem Tag erwachst, denn dem Sterben müssen wir nicht ins Handwerk pfuschen. Das geschieht eines Tages von ganz allein.

Eines noch. Sag nie wieder, es ginge dir gut, wenn es nicht so ist. Lache nicht, wenn deine Seele doch weint. Schweige nicht, wenn du schreien möchtest. Und schwimm nie wieder allein so weit hinaus, denn ich bin eine miserable Schwimmerin und kann dir dorthin nicht folgen. Versteck dich bitte nicht, wenn Hilf- oder Hoffnungslosigkeit sich gemeinsam mit Verzweiflung in deinem Leben breit machen. Zeige dich und halte dich ruhig eine Weile an den Händen fest, die dir aufhelfen. Solange, bis du wieder selbstständig und sicher den Weg deines Lebens laufen kannst.

Und weißt du, ich denke seit diesem Montagvormittag so oft, dass wir Menschen uns unbedingt wieder dafür sensibilisieren müssen, andere zu sehen, zu fühlen und zu hören, selbst dann, wenn sie schweigen…

… damit aus einem Abschied von neun Minuten kein Abschied für immer wird. Erst recht nicht vom eigenen kleinen Bruder.

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