Knock(Burn-)out

Ein Montagmorgen wie jeder andere. Routine im Bad, um pünktlich zur Arbeit zu kommen. Plötzlich Hitze, die sich im gesamten Körper ausbreitete, ein verschwommenes Spiegelbild und Beine, die mich nicht mehr trugen. Während mir die Luft wegblieb, klammerten sich meine Hände haltsuchend ans Waschbecken, bevor ich schwankend den Küchenstuhl wieder erreichte und weinend darauf zusammensackte. Knockout!

Bis zu diesem Morgen war ich der festen Überzeugung, dass mir so etwas niemals passieren würde. Ich hatte mich geirrt! Und nun muss ich selbst die Verantwortung dafür übernehmen und die Rechnung der eigenen Ignoranz mir gegenüber teuer bezahlen.

Es begann vor ca. einem dreiviertel Jahr. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Arbeit im Büro immer mehr. Der Job welcher über einige Jahre von zwei Mitarbeitern erledigt wurde, lag seit einiger Zeit allein bei mir. Es war okay, denn ich liebe diese, meine Arbeit und war mir sicher, dass ich es auch allein schaffe. Ja, ich musste hin und wieder nach Feierabend etwas länger bleiben, aber auch das schien mir noch in Ordnung. Während dieser Zeit begannen die Schmerzen. Es war nicht schlimm. Rückenschmerzen kannte ich und war es auch gewohnt, dass sie nach spätestens zwei Wochen wieder verschwanden.

Während ich bereits Überstunden im Büro verbrachte, übertrug der Chef mir plötzlich weitere Aufgaben, um andere Kollegen zu entlasten. Er war der Ansicht, ich hätte noch ausreichend freie Kapazitäten. Also machte ich ab sofort „Über-Überstunden“, um auch diese Arbeit erledigen zu können. Dabei verschlimmerten sich die Schmerzen.

Zur gleichen Zeit überschlugen sich auch in meinem Privatleben die Ereignisse. Da war noch mein gebrochenes Herz, welches ich bisher aus Zeitmangel nur stümperhaft geflickt hatte. Mein kleiner Bruder verzweifelte am Leben und brauchte Unterstützung, die ich nicht so geben konnte, wie ich gewollt hätte, denn die meiste Zeit verbrachte ich schließlich im Büro. Zwischenzeitlich heiratete auch mein Sohn. Diese Hochzeit schien allerdings ganz nebenbei an mir vorbeizuziehen. Als meine geliebte Oma starb, blieb keine Zeit zum Trauern. Das Leben und der Job mussten ja weitergehen. Erst als mir kurz nach der Geburt meiner Enkeltochter jemand aus dem Büro „sehr viel schöne Zeit mit dem Kind“ wünschte, wurde mir klar, dass ich diese gar nicht mehr hatte. Es war keine Zeit mehr für Familie, für Freude oder Trauer, auch nicht für das neugeborene Leben.

Aber trotz dieser Erkenntnis musste ja die Arbeit weiter geschafft werden. Ich kam aus der Nummer einfach nicht mehr heraus. Nun bereiteten mir bereits das Hinsetzen und auch das Aufstehen vom Bürostuhl Schwierigkeiten. Bei jeder Bewegung stachen mir hunderte Messer in den Rücken. Ich verfluchte die Schmerzen, aber ignorierte nach wie vor die Seele, welche nicht deutlicher hätte schreien können.

Heute weiß ich, dass ich bereits am dritten Adventssonntag, den ich, statt mit meiner Familie, mit meiner Arbeit im Büro verbrachte, darüber hätte nachdenken müssen, was gerade mit mir geschieht. Das habe ich aber nicht getan. Stattdessen machte ich weiter, mittlerweile mit Hilfe von Schmerzmitteln.

In diesem Jahr verpasste ich den Frühling. Ich konnte die Vögel nicht mehr hören, das frische Gras nicht mehr riechen, die ersten warmen Sonnenstrahlen nicht mehr fühlen und das Aufblühen der Blumen nicht mehr sehen. Da war nur noch dieser Tunnel, durch den ich täglich ging. Er führte mich ins Büro und anschließend wieder nach Hause. Dazu verschlang er all meine Lebensfreude, mein Interesse an der eigenen Familie, meine Liebe zum Leben und sogar meine Kreativität. Ich konnte nichts mehr fühlen. Dafür übernahmen Gleichgültigkeit und permanente Müdigkeit die Kontrolle. Tagsüber kämpfte mein Kopf mit der nicht mehr zu bewältigenden Arbeit und nachts rang mein Körper mit den unerträglichen Schmerzen. Bereits am Abend hatte ich Angst vor dem Morgen. Wenn ich in der Frühe regungslos auf der Bettkante saß oder erstarrt mitten in der Wohnung stand, da keine Bewegung möglich war, weinte ich nur noch. Die Schmerzen verursachten Übel- und Traurigkeit, wenn es mir einfach nicht mehr möglich war, meine Strümpfe anzuziehen. Und trotzdem schaffte ich weiterhin täglich den Weg durch diesen fürchterlichen Tunnel… bis zu jenem Montagmorgen, dem Moment, in dem mir der Boden unter den Füßen weggerissen wurde.

In den vergangenen Wochen befassten sich verschiedene Ärzte, Physio- und Osteopathen mit meinem Körper. Eine eindeutige Diagnose wurde bisher nicht gestellt. Nur meine jüngere Schwester erwähnte im Gespräch vorsichtig den Begriff „Burnout“; das Wort, gegen welches ich mich bisher so sehr gewehrt habe. Aber letztendlich ist es egal, welchen Namen man dem gibt, was mir passiert ist. Ich selbst habe mich vergessen, missachtet und überhört. Und die Quittung dafür habe ich nun bekommen.

Ich weiß nicht, ob diese immer noch wahnsinnigen Schmerzen eines Tages verschwinden werden. Vielleicht haben sie sich im Laufe der letzten Monate in meinem Geist, in meinem Körper oder meiner Seele manifestiert? Mir bleibt nichts anderes übrig, als abzuwarten, wie es mir weiterhin ergehen und was mir helfen wird. Aber bis dahin habe ich aufgrund der ärztlich verordneten Ruhe etwas sehr Wertvolles… Zeit.

Zeit, um die Scherben meines gebrochenen Herzens sorgfältig zu kleben, Zeit, um meinem Bruder auf dem Weg zurück ins Leben zuzuhören und -zusehen. Ich habe endlich Zeit, meiner Oma eine Blume auf den Friedhof zu bringen und ihren Verlust zu beweinen. Ebenso habe ich nun die Zeit, meiner kleinen Enkeltochter zu zeigen, wie wichtig und schön es ist, die Sonne zu fühlen, Vögel zu hören, Blumen zu sehen und frisches Gras an den Füßen spüren zu können.

Und vielleicht ist genau das die richtige und einzige Medizin, die ich brauche, um zu erkennen, dass es keine Trennung zwischen Arbeits-, Frei- oder Auszeit gibt. Alles ist unsere Lebenszeit…

… und was ist es wert, diese vorzeitig zu ruinieren?

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