Seit kurzem lebe ich mit zwei Männern zusammen. Hört sich spannend an, ist es auch. Allerdings etwas anders, als wahrscheinlich auch meine Nachbarn hinter vorgehaltener Hand tuscheln mögen. Einer der Männer ist mein Bruder. Der andere ist eine mühsam verdrängte Herz-Schmerz-Geschichte. Aber eines haben beide gemeinsam. Sie waren eine Zeit lang aus meinem Leben verschwunden. Vielleicht hatten sie mich vergessen. Aber egal, wie es war, ich jedenfalls versprach ihnen irgendwann einmal, für sie da zu sein, wenn sie in Not sind, dann, wenn sie meine Hilfe brauchen und auch wollen.
Beide verbindet eine ähnliche Erfahrung, die sie kürzlich machen mussten. Das tobende Leben hat die Komfortzone der beiden Hitzköpfe, unabhängig voneinander, mit lautem Knall gesprengt. Immer mit Vollgas durch alle Türen hatte zur Folge, dass plötzlich eine Mauer auftauchte, die sie scharf abbremste und zu Boden warf. Nun sind sie hier und pflastern sich gerade einen neuen Weg, auf dem sie weitergehen können.
In meinem Umfeld wurde eifrig über dieses Ü-45-Zusammenleben diskutiert. Man vermutete, dass mich nun unendliches Chaos in meiner Wohnung stressen würde. Es wurden Streitigkeiten vorhergesagt und eine Menge Unverständnis darüber geäußert, dass ich zwei Menschen „aufnehme“, die sich doch in ihren guten Zeiten nicht im Geringsten an mich erinnert hatten. Ich werde böse verbal angegriffen; angegriffen dafür, dass ich lediglich mein Versprechen hielt. Fast täglich kämpfe ich den Kampf gegen Halbwissen, Vermutungen, das Aufbereiten alter Geschichten und das Kopfkino anderer. Ich muss mich permanent wehren und man erwartet ständig Antworten und Rechtfertigungen von mir. Die beiden Jungs haben davon gar keine Ahnung. Ich möchte auch nicht, dass sie meinen Kampf mitkämpfen müssen.
Wie es wirklich täglich in unserer kleinen Wohngemeinschaft vor sich geht, weiß niemand. Das will auch niemand wissen. Sie stecken in ihren eigenen Vorstellungen fest. Und das ist das Problem. Denn diese Vorstellung lässt nicht zu, dass das ruhige, gleichmäßige Dasein durcheinander gerüttelt wird. Alles soll und muss bleiben wie es ist; es sei denn, man hat eine Veränderung geplant, sie sich selbst ausgesucht. Dann heißt man sie natürlich gerne willkommen.
Unser Zusammentreffen war nie geplant. Es passierte quasi aus der Not heraus. Und es ist ein großartiges Experiment, welchem wir uns hier stellen. Ich behaupte, wir meistern es mit Bravour. Dazu braucht es im Grunde genommen auch gar nicht viel. Aber vielleicht tragen wir drei doch etwas Besonderes in uns, nämlich Verständnis und Mitgefühl für die Lage des Anderen. Hier wird niemand für seine Geschichte verurteilt. Es wird akzeptiert und toleriert, jeder als Mensch gesehen und vor allem darf dieser Mensch dann auch so sein und bleiben wie er nunmal ist. Es werden keine alten Verletzlichkeiten herausgekramt oder Vorwürfe gemacht. Kleine Eigenarten des Anderen werden mit unglaublichem Humor genommen. Dadurch haben wir natürlich sehr viel zu lachen, größtenteils über uns selbst. Wir können uns zuhören, reden und gegenseitig ein wenig halten. Für mich ist es eine wunderschöne Zeit und ich hoffe, dass es das auch für die beiden Männer ist.
Die Beiden werden mich wahrscheinlich in Kürze wieder verlassen, denn sie arbeiten ja bereits an dem Weg, auf dem sie ohne meine Hilfe weitergehen können. Sie bauen sich und ihr Leben selbstständig stückchenweise wieder auf. Wenn sie gehen, wird es lautlos geschehen und wer weiß schon, ob sie mich dabei nicht sogar wieder vergessen. „Sie werden dir deine Hilfe nicht danken.“ ist der Satz, den ich am häufigsten zurzeit höre. Er tut sehr weh. Aber selbst mit diesen Worten äußern Menschen doch nur ihre eigene Vorstellung von Dank.
Die Dankbarkeit der beiden Jungs empfinde ich jeden Tag, wenn ich sie lachen sehe, wenn ich ihre wiedergewonne Zuversicht spüre und ihre kleinen Schritte zurück ins eigene Leben beobachten darf. Damit geben sie mir so verdammt viel zurück. Das ist ihr Dankeschön an mich, von dem sie selbst gar nichts wissen.
Ich dagegen gab ihnen doch nur ein Bett, ein bisschen Liebe und einen Platz in meiner Wohnung und meinem Herzen, an dem sie Ruhe finden, sich neu sortieren, durchatmen und an dem sie sich verstanden fühlen konnten. Und ein Versprechen gab ich den Beiden damals…
… nur ein Versprechen, auf das sie sich aber jederzeit, verlassen konnten.
Foto: Ricardo Kisker