Opfer lieben Narzissten, Narzissten lieben Opfer

Narzissmus ist mittlerweile zum umgangssprachlichen Gebrauch mutiert. Es braucht nicht viel, um heutzutage in Windeseile zum Narzissten abgestempelt zu werden. Ebenso schnell wird der Gegenspieler (meist eine Gegenspielerin) zum Opfer deklariert. Das gutherzige Opfer eines manipulativen Egomanen. Fertig ist das Schwarz-Weiß-Bild einer solchen Verbindung. Gut und böse. Richtig und falsch. Ist es wirklich so einfach?

Narzissmus ist und bleibt eine Persönlichkeitsstörung, die von Fachleuten erkannt sowie diagnostiziert gehört und nicht von mir als Laie. Trotzdem erlauben sich immer öfter Laien, andere Menschen in die Narzissten-Schublade zu stecken. Durch solch eine, in meinen Augen anmaßende, Beurteilung wurde ich kurzerhand in die gegenüberliegende Opfer-Schublade gedrängt. Mir wurden stundenlange Videos und Links zu Coaches oder Trainern zugespielt, damit ich mich gut oder besser fühlen sollte. Das Gegenteil war der Fall. Mir wurde bei all dem nur erklärt, wie schlecht ich dran bin und dass ich unbedingt Hilfe bräuchte, um dieser ungesunden Verbindung zu entkommen und kein Opfer mehr zu sein. Was für ein Aufwand, um mich dorthin zu schieben, wo ich selbst mich gar nicht sah! Ich war und bin kein Opfer. Ebenso wenig muss ich davon geheilt oder gerettet werden.

Ich habe mich sehr lange mit dem Thema befasst. Nicht mit dem angeblich narzisstischen Menschen in meinem Leben, sondern mit mir und jenen, die sich dazu berufen fühlten, uns beide so zu katalogisieren.

Ich glaube, wir neigen sehr schnell dazu, einen Menschen, der plötzlich nicht mehr unseren Erwartungen entspricht oder unsere Bedürfnisse und Vorstellungen befriedigt, abzuwerten. Die Benennung Narzisst ist eine einfach auszulebende Art davon. So etwas kann aber nur passieren, wenn ich in dem anderen die Schuld für mein Unbefriedigt-Sein suche. Statt auf sich selbst zu schauen, wird jedes ungute Gefühl auf den anderen projiziert. Statt zu hinterfragen, warum macht das Verhalten dieses Menschen etwas mit mir, wird geschaut, was stimmt mit dem nicht, dass er so mit mir umgeht. Immer schön von sich selbst weg. Es könnte ja unangenehm werden.

Wie kann man kurz zusammenfassen, was in so einer Begegnung geschieht? Laut Informationen aus dem Internet passiert es so: Dieser (angebliche) Narzisst fängt dich. Dazu muss er dich umgarnen, dir schmeicheln und dich aus der Masse herausheben. Er muss dir zeigen, wie groß- und einzigartig du bist, damit auch du seine Großartigkeit erkennst. Meine eigene Erfahrung dazu: Dabei entblößt er dich. Er packt dich aus. So entfernt er Schicht um Schicht deiner bisher angelegten Hülle. Zum Vorschein können die unterschiedlichsten Dinge kommen, die du bis dahin verschlossen oder dich nicht getraut hast. Vielleicht Selbstwert und Selbstbewusstsein. Vielleicht Gefühle und Emotionen, die vergraben schienen. Mut und Vertrauen. Kreativität und Können, dessen du dir bisher gar nicht im Klaren warst. Plötzlich bist du in der Liebe zu diesem Menschen aufgeblüht. Ob er das tut, damit er deine Aufmerksamkeit, Zuneigung, Anerkennung oder Liebe bekommt, spielt doch gar keine Rolle. Es geht dabei um dich und was es mit dir Tolles gemacht hat.

Laut allwissender Narzissmus-Heiler wird dieser Mensch dich irgendwann gnadenlos ins Bodenlose fallen lassen, nämlich dann, wenn er dich nicht mehr für seine Selbstbestätigung benötigt. Vielleicht bekommt er nun an anderer Stelle mehr davon. Vielleicht reicht ihm dein Anhimmeln auch nicht mehr. Egal, was seine Beweggründe sind, die man ihm nachsagt, es geht wieder nur um dich. Wenn du dich jetzt in die Opferrolle und damit zurück in die Höhle verkriechst, aus der du durch ihn herausfinden konntest, hast du dich und dein Aufblühen und Strahlen zu sehr von ihm abhängig gemacht. Er war deine Starthilfe, aber nicht der Motor, der dich nun ein Leben lang weiter antreiben muss. Wenn du das geglaubt und dich daran festgehalten hast, wirst du natürlich nun Schuld für deine schlechten Gefühle und deine Enttäuschung bei ihm suchen. Er hat dich nicht VERlassen. Er hat dich nun GElassen, damit du selbstständig deinen Weg weitergehst. Du bist kein Opfer. Du hast dich wiedergefunden. Er ist kein Täter. Dieser Mensch hatte offensichtlich eine sehr gute Intuition und Wahrnehmung, um dich zu erkennen und in die Richtung zu dir selbst führen zu können.

Ich denke, dass kein Mensch uns umsonst begegnet. Und auch ich bin nicht aus Versehen in das Leben eines anderen Menschen gelangt. Etwas geschieht in solchen Verbindungen. Nicht nur mit mir. Mit Sicherheit auch bei dem anderen. Das können aber nur diese beiden Menschen für sich erkennen. Keine Freunde, keine Familie und kein Narzissmus-Coach sind in der Lage dazu, wenn die zwei selbst nicht dazu bereit sind. Im besten Fall geschieht dadurch Heilung alter vernarbter Wunden und Erfahrungen. Ich heile nicht den anderen. Das ist nicht meine Aufgabe. Jeder heilt durch diese Verbindung einen Teil in sich selbst, wenn er sich aus der Opfer- oder Täter-Rolle befreit.

Es mag wirklich krankhaften Narzissmus geben. Das streite ich nicht ab. Aber nicht jede schwierige, aus der Norm fallende, Begegnung verdient mal eben diese Bezeichnung. Und wenn wir uns sträuben, sie in richtig oder falsch, gut oder böse, schwarz oder weiß zu unterteilen, kann eine solche, nach außen äußerst narzisstisch und toxisch wirkende Verbindung, genau das sein, was wir brauchen, um aneinander zu wachsen und uns zu entwickeln.

Wer weiß, ob sich der einstige „Narzisst“ und sein „Opfer“ danach nicht plötzlich auf einer Ebene wiederbegegnen, wo all die Schlaumeier nie hinkommen werden.

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