Liebe und Angst

Vor einem Jahr bekam ich früh morgens gegen 4.00 Uhr einen Anruf. Es war bereits der zweite in dieser Nacht. Die Stimme am anderen Ende sagte aufgeregt: „Deine Tochter quält sich so sehr und sie fragt jetzt nach dir.“ Es war die Nacht, in der du geboren wurdest, Kleines. Dein Papa rief mich an. Ich war nervös und jede andere Mutter wäre nach diesem Anruf bestimmt auf dem schnellsten Weg zu ihrer gerade entbindenden Tochter in die Klinik gefahren. Aber ich ließ mir Zeit, ging gemächlich ins Bad, duschte und frisierte mich, bevor ich mit öffentlichen Verkehrsmitteln zum Kreißsaal fuhr. Babygirl, ich weiß, dass deine Mama auf mich gewartet hat und glaub mir, ich war auch so wahnsinnig neugierig auf dich. Aber ich wollte nicht dabei sein, als du geboren wurdest. Dieser zauberhafte und wundervolle Moment sollte ganz allein dir und deinen Eltern gehören. Ich als Mutter, und nun auch Oma, wollte den Augenblick des Wunders und des Glücks nicht stören. Deine Äuglein sollten als erstes deine Mama und deinen Papa sehen, nicht mich. Ich habe es gut hinbekommen. Als ich in der Klinik ankam, lagst du bereits auf dem Bett und ich brauchte nur noch kontrollieren, ob alle Fingerchen und Zehe dran waren.

Dieser aufregende Morgen ist nun genau zwölf Monate her. Heute wird die erste Kerze auf deiner Geburtstagstorte brennen. Ich bin etwas erschrocken, wie schnell die Zeit vergangen ist. Du bist so groß geworden und ich lass das letzte Jahr in Gedanken Revue passieren. Du weißt noch nicht, wie sehr du mich bisher berührt hast und wie lieb ich dich hab. Im Frühjahr lagst du an meinem Geburtstag mit mir am Ostseestrand und im Sommer am See auf einer Decke. Wir bestaunten dabei die Sonnenstrahlen zwischen den wippenden Blättern der Bäume. Ich konnte deine Neugier belächeln, als ich dir zum ersten Mal mit Grashalmen die nackten Füßchen streichelte. Wir haben eine Menge Spaß beim Faxenmachen und deine Mama sagte neulich, sie hat mich noch nie so viel singen gehört, wie jetzt, wenn ich dir all die Kinderlieder, die mir noch einfallen, vorträllere und wir beide dabei in die Hände klatschen. Mittlerweile kommst du lachend auf mich zugekrabbelt und hälst mir deine kleinen Händchen hin.

Kleine Maus, ich bin nicht die Oma, die dich im vergangenen Jahr mit Geschenken überschüttet hat. Außer vor ein paar Wochen ein gebrauchtes Schaukelpferd aus Holz, habe ich dir bisher nicht viele Überraschungen mitgebracht. Es ist so ähnlich wie an dem Tag deiner Geburt. Ich möchte gerne, dass du das Wichtige zu Beginn deines Lebens siehst und erfährst. Kein mit unnötigem Schnickschnack gefülltes Kinderzimmer soll dir Nähe, Aufmerksamkeit und Liebe ersetzen. Wenn ich bei dir bin, schenke ich dir meine Zeit, in der Hoffnung, dass du ihren Wert eines Tages zu schätzen weißt.

Allerdings haben wir diese Zeit noch nie länger allein verbracht. Den Vorwurf, dass ich nicht auf dich aufpasse, damit deine Eltern mal andere Dinge tun können, musste ich mir bereits anhören. Babygirl, eines Tages werden sie dir vielleicht erzählen, dass deine Oma sich geweigert hat, dich zu hüten, aber sie haben ja auch keine Ahnung, warum das so ist. Weißt du, als deine Mama drei Wochen alt war, lief ihr kleines Gesichtchen blau an, ihr winziger Körper verkrampfte sich zu einer skurrilen Figur und sie hörte auf zu atmen. Ich bemerkte die Situation zum Glück und riss sie verzweifelt aus ihrem Kinderbett. Während ich sie an ihren Beinchen kopfüber hielt und mit der Hand auf ihren Rücken klopfte, schrie ich sie unter Tränen ununterbrochen an: „Atme bitte, atme!“ So standen wir eine gefühlte Ewigkeit. Als deine Mama dann endlich begann zu schreien, sackte ich vor Erleichterung weinend mit ihr auf dem Arm zusammen. Ich war erst 19 Jahre alt und in diesem Moment allein mit meinem Baby. Und nun, 31 Jahre später, ist die Angst von damals wieder da, kleine Maus. Ja, ich habe schreckliche Angst, mit dir allein zu sein. Angst, dass dir dabei irgendetwas widerfährt und ich erneut so einer Situation hilflos ausgeliefert bin. All die Liebe, die ich für dich empfinde, konnte diese Angst bisher nicht in den Schatten stellen. Sie ist immer noch präsent und ich bezweifle, dass das irgendjemand verstehen kann. Wie auch?

Aber hey, du wirst älter werden und wachsen. Und vielleicht werde ich irgendwann im Laufe der Zeit diese Angst einfach vergessen können. Wahrscheinlich wirst sogar du es sein, die sie mir eines Tages nehmen wird. Dann, wenn du mir dein kleines Händchen wieder einmal entgegenstreckst, dann, wenn du mir einfach nur vertraust.

Liebe und Angst gehen manchmal miteinander einher und eines kann das andere verdecken. Aber, wenn du mit deinem Herzen schaust, wirst du trotzdem immer die Liebe hinter jeder Angst sowie auch umgekehrt die Angst hinter der Liebe fühlen und erkennen können. Und genau das wünsche ich dir, Babygirl, heute zu deinem ersten Geburtstag…

… ein stets offenes Herz, eine mitfühlende Seele, aber auch eine Oma, die endlich keine Angst mehr vor dir hat.

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