Hanna ist zu dick

Kurz vor Feierabend telefonierte heute meine Kollegin mit ihrer Tochter. Man wollte sich eigentlich nur zur richtigen Zeit vor der Musikschule verabreden. Aber Hanna musste ihrer Mutter schon mal am Telefon mitteilen, dass sie ihren Wunschzettel zu Weihnachhten widerruft. Nichts davon will sie mehr. Sie wünscht sich nun ein Laufband. Hanna ist sechs Jahre alt!

Die Maus wurde im Sommer dieses Jahres eingeschult. Sie ist ein richtiges kleines Mädchen, zieht am liebsten schöne Kleider an und trägt lange Haare. Hanna ist ein sehr empathisches Kind. Wenn andere (selbst fremde) Kinder Kummer haben, fühlt sie diesen genauso. Sie weint, wenn jemand in ihrem Umfeld traurig ist und freut sich mit, wenn jemand fröhlich ist. Dieses kleine Mädchen animierte im vergangenen Sommer seine Mutter, mal darauf zu achten, wie schön sich doch der warme Sand des Strandes an den Füßen anfühlt. Welch eine Wahrnehmung in diesem kleinen Menschen steckt! Vor ein paar Wochen kaufte ich Hanna deshalb eine Kette, die ich selber auch trage. Auf dieser Kette steht der Schriftzug Om Mani Padme Hum. Ich fand, dass dieses Mantra der Liebe und des Mitgefühls unglaublich gut zu ihr passt. Naja, und kleine Mädchen tragen doch gerne Ketten.

Nun geht Hanna seit ein paar Monaten in die Schule. Sie erzählt ihrer Mutter, wie die gleichaltrigen Mädchen ihre Körper vergleichen. Dabei hat Hanna scheinbar das Gefühl, dass der ihre nicht perfekt genug ist. Vielleicht hat man es ihr auch gesagt. Die Sechsjährige ist sich auch sicher, dass alle Jungs der Klasse ein anderes Mädchen so toll finden, weil dieses viel schönere Haare hat als Hanna selbst.

Tja, und zu Weihnachhten will sie eben ein Laufband, weil sie sich zu dick fühlt. Sie möchte genauso schön und dadurch gemocht werden, wie das/die andere/n Mädchen. Mit sechs Jahren! Ich war sprachlos. Hanna neigt nicht mal im Ansatz zu Übergewicht und auch ihre Haare sind wie die von vielen anderen Mädchen in diesem Alter. Noch etwas dünn, aber trotzdem stets von ihr gepflegt und schick frisiert.

Ich fragte mich heute, wie stark der Druck auf so ein kleines Wesen in diesem Alter schon sein muss, dass es seine kindlichen Wünsche wegen eines Fitnessgerätes komplett vom Wunschzettel streicht. Mit ihren sechs Jahren sollte sie sich über Puppen, erste Bücher zum Lesen oder Spielzeug freuen, all die Dinge, die sie doch zuvor auf ihren Zettel an den Weihnachtsmann geschrieben hatte. Was passiert mit unseren Kindern? Ist die unbeschwerte, leichte und verspielte Kindheit wirklich schon nach sechs Jahren vorbei? Müssen die kleinen Würmchen sich dann bereits vergleichen und auch gleich sein? Wer trägt die Verantwortung dafür, dass schon in diesem Alter Liebe, Mitgefühl und Freundschaft hinter dem Spiegel der Äußerlichkeiten verschwinden? Sind wir Erwachsenen es? Sind es die Medien? Ist es die Gesellschaft und die Zeit, in der wir leben?

Hannas Mutti macht sich schon länger Gedanken darüber, dass ihre kleine Tochter genauso empathisch auf ihr Umfeld reagiert, wie sie selbst. Nicht, weil sie es als schlecht empfindet, sondern aus Sorge, dass genau das passieren könnte, was jetzt tatsächlich passiert… dass die Kleine ihre eigenen Werte und Wünsche nicht mehr sieht, nur, um den Oberflächlichkeiten der Anderen gerecht zu werden. Dass ihr liebenswertes Anderssein irgendwann nicht mehr reichen wird, um dazuzugehören.

Ich weiß, dass meine Kollegin ihrer kleinen Tochter das Laufband heute abend wieder ausreden wird. Sie wird ihr auch erklären, dass Menschen, die sich für schön halten, hässlich sein können, hässlich in ihrer Art und ihren Worten. Sie wird Hanna daran erinnern, dass sie ein wertvoller Mensch und perfekt ist, genau so wie sie eben ist. Aber reicht das? Welches Gewicht trägt das Wort einer Mutter, wenn im Außen viel zu viele Stimmen anderes suggerieren? Wem wird das eigene Kind glauben? An wem wird es sich orientieren? Ist es stark genug, um anders sein zu können, auch dann, wenn es das Gefühl hat, allein dazustehen? Ich weiß es nicht.

Heute abend saß ich einfach nur sprach- und fassungslos da und machte mir Gedanken um unsere Kinder, vor allem auch um meine eigene einjährige Enkeltochter. Wie lange wird sie ein kleines unbeschwertes Mädchen sein dürfen? Im Höchstfall sechs Jahre?

Hannas Mutti schickte ich vorhin noch ein ca. achtminütiges Walt Disney Video der Geschichte vom hässlichen Entlein. Dazu schrieb ich für Hanna die Frage: „Wer sind in diesem Film die wirklich Hässlichen?“

Und ich hoffe sehr, dass sie die Botschaft verstanden und ihren alten Wunschzettel für den Weihnachtmann wieder hervorgeholt hat.

Vielleicht sagt dieses Video alles, was es dazu noch zu sagen gibt.

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