Forever young

Neulich fragte mich mein Sohn, ob ich für ihn das alte Foto heraussuchen könnte, auf dem er als kleiner Junge von mir zum Pumuckl verkleidet wurde. Ich holte meine Fotokisten aus dem Schrank und begann zu suchen. Innerhalb eines kurzen Moments saß ich inmitten eines Haufens alter Bilder. Um mich herum lag mein Leben.

Dabei entdeckte ich auch die Fotos eines Sommers, den ich längst vergessen hatte. Ich war 16 Jahre alt und mein Zuhause war ein Irrenhaus. In diesem Sommer brach ich mit einer Freundin aus. Wir zogen los, die Ostsee zu erobern. Weder Zelt noch Schlafsack hatten wir dabei. Uns genügten ein paar Klamotten, eine Decke und sehr wenig Geld. Streckenweise nutzten wir den Zug. Manchmal ließen wir uns auch am Straßenrand von netten Autofahrern mitnehmen. Auf unserem Weg trafen wir irgendwann eine Fünfer-Gruppe junger Männer, welche dassselbe Ziel wie wir hatten. Das Meer! Wir schlossen uns ihnen an und es wurde eine aufregende Zeit.

Während ich die zum Teil schon eingerissenen Fotos ansah, begann ich, mich selbst darin zu suchen. Damals lief ich barfuß mit zerzausten Haaren und rauchte filterlose Karo-Zigaretten. Nachts schlief ich am Ostseestrand in Strandkörben oder nur auf einer Decke. Ich sammelte Steine und schrieb damit Botschaften in den warmen Sand. Wir tranken Bier aus Flaschen und knutschten fremde Männer, die wir für einen kurzen Augenblick, für ein Lachen, auf unserem Weg kennenlernten. Die alten Fotos rochen an diesem Abend nach Salzwasser, nach Freiheit und Leichtigkeit. Ich war damals so jung und das Leben vor mir noch weit. Da waren keine Ängste oder Gedanken an morgen. Vielmehr füllte mich Vertrauen in das Leben sowie auch die Liebe und Neugier dazu. Alles durfte auf mich zukommen und wurde von mir genauso angenommen.

Ja, ich suchte und ich fand mich an diesem Abend auf den alten Fotos. Nur minimale Veränderungen gab es in den letzten Jahrzehnten. Aus dem Bier wurde Rotwein, meine Zigaretten haben heute Filter. Statt mit Steinen in den Sand, schreibe ich heute meine Gedanken am Laptop. Auch bemühe ich mich heutzutage, den Haaren ein bisschen Form zu geben, selbst wenn es nur bei dem Versuch bleibt. Und im zurückliegenden Sommer hatte ich zumindest einen Schlafsack dabei, als ich am Strand schlief.

Aber barfuß laufe ich noch immer so gerne, weil ich es genieße, an den Füßen das weiche Gras, das kraftvolle Wasser oder den warmen Sand zu spüren. Nichts von all dem, was nach dem Sommer auf den Fotos geschah, konnte mir die Liebe und das Vertrauen eines Teenagers zum Leben nehmen. Mein Lachen und mein Drang nach spontanen, kleinen Abenteuern sind ebenso geblieben. Okay, ich knutsche heute nicht mehr fremde Männer auf der Straße, aber das bedeutet nicht, dass ich es nicht manchmal einfach im Vorbeigehen gerne tun würde.

Wir sollen nicht in der Vergangenheit weilen, wird uns oft gesagt. Aber hey, mich haben diese Fotos an mich selbst erinnert. Sie haben mir für einen Abend ein junges Mädchen zurückgebracht, welches sich heutzutage viel zu oft versteckt, nur weil das Äußere älter geworden ist, weil sich bestimmte Dinge im Alter nicht „gehören“ und weil wir doch immer an irgendetwas oder irgendwen angepasst, vernünftig und durchdacht funktionieren sollen. Im Herzen ist diese Frau jedoch immer wild, unangepasst, jung und etwas unvernünftig geblieben; ihre Seele nach wie vor hungrig nach dem Leben und der Liebe. Jeden Tag aufs Neue. Und daran erinnerte mich an einem Novemberabend ein 16-jähriges Mädchen in schwarz-weiß.

Meinen Sohn als Pumuckl entdeckte ich schließlich auch noch in der Fotokiste und ich hoffe, auch er fand sich an diesem Abend in seinem Foto wieder.

Kommentar verfassen