Ich will dir noch was sagen, Oma!

Ich fürchtete mich so sehr vor diesem Tag, obwohl ich wusste, dass er kommen wird. Es war verrückt, mir zu wünschen, dass du mein ganzes Leben lang, bei mir bleiben wirst. Das konntest du gar nicht. Und nun bist du tatsächlich dorthin gegangen, wohin ich dir noch nicht folgen kann und will. Ohne ein Lebewohl, ohne eine letzte Umarmung und ohne ein „Bis bald.“ Da war nur ein Anruf mit der Nachricht, dass du eingeschlafen bist.

In letzter Zeit war ich sehr krank, Oma. Ich hatte überall furchtbare Schmerzen und konnte kaum noch laufen. Die Ärzte haben nichts gefunden. Habe ich vielleicht gespürt, dass du gehen wirst? Kann man fühlen, wenn ein geliebter Mensch sich auf seinen letzten Weg begibt? Ich glaube, dass es so etwas gibt, denn seit du deine Augen vor zwei Tagen geschlossen hast, werden die Schmerzen weniger. Ich kann mich wieder bewegen. Nur wer weiß, was uns beide verband und wie viel du mir bedeutet hast, wird das verstehen können.

Mir ist kalt ohne dich, Oma, und ich weine so viel. Du bist nicht mehr da und ich kann das noch nicht begreifen. Du warst doch schließlich immer da.

Ich habe bestimmt allerhand Unfug in meinem Leben angestellt. Aber, wenn ich dabei glücklich war, hast du dich auch gefreut. Und wenn es schief ging, hast du mir ohne Vorwürfe wieder aufgeholfen. Du hast mich als junges Mädchen aufgenommen, als ich aus einem für mich unerträglichen Elternhaus floh, du hast später meine Kinder gehütet und mir immer noch, obwohl ich schon so alt war, mein Lieblingsessen gekocht. Du hast dafür nie etwas von mir verlangt, aber ich habe versucht, dir, als du älter wurdest, so viel Hilfe und Zeit wie möglich zu schenken. Ich weiß nicht, ob das gereicht hat.

Irgendwann erwischte dich das große Vergessen. Du konntest dich immer weniger an Ereignisse oder Menschen erinnern. Jedes Mal, wenn ich die Tür zu deinem Zimmer im Pflegeheim öffnete, betrat meine Angst, dass du mich nicht mehr erkennst, mit mir den Raum. Aber vor einigen Wochen stand plötzlich dieses alte Foto von mir auf deinem Nachtschränkchen. Es war nicht schick gerahmt, so wie all die anderen Fotos, die man für dich im Zimmer platziert hatte, sondern nur ein Stück Papier mit meinem Bild. Auf meine Frage, wie es dorthin kommt, strahltest du mich so stolz an und sagtest: „Das habe ich herausgesucht und dorthin gestellt, damit ich dich immer ansehen kann.“ Ich war so gerührt davon, dass du mich nicht vergessen wolltest. Aber Oma, du brauchtest eigentlich gar kein Foto, denn du hast mich immer gesehen. Anderen Menschen konnte ich vielleicht etwas vorspielen, dir nie. Du hast immer gefühlt, wie es mir ging, egal, was ich gelogen habe, nur um dir keine Sorgen zu bereiten. Weißt du, wie ich dich still für mich nannte? Du warst my Angel without Memory.

Du fandest nicht mehr die richtigen Worte und es war manchmal schwer, zu verstehen, was du mir sagen wolltest. Doch es war egal. Wir haben trotzdem zusammen gelacht und ich habe dir weiterhin alles erzählt, was in meinem Leben passierte. Gefühlte einhundert Mal haben wir die selben Fotos angeschaut, weil sie für dich immer wieder neu waren. Wir haben auch ganz laut deine Lieblingsschlager gehört und dazu geschunkelt. Bei schönem Wetter saßen wir in dem kleinen Park hinter dem Heim und haben zusammen die wunderschönen Wolken am Himmel beobachtet. Und bei all dem hast du immer meine Hand gesucht und sie dann so fest gehalten, dass ich mir sicher war, du würdest sie niemals loslassen.

Du wolltest mir immer irgendetwas schenken, wenn ich ging und es machte dich traurig, dass du das nun nicht mehr konntest. Hey Oma, ich wollte nichts von dir, denn du hattest mir doch schon alles von dir gegeben. Und damit war ich so wahnsinnig reich. Ich hab Unmengen an Zeit, Liebe, Umarmungen und Trost von dir bekommen und dafür bin ich dir so unendlich dankbar.

Oma, ich habe dir nie gesagt, das du mein Zuhause warst. Du warst der Ort, an den ich immer zurückkehren konnte, wenn alles um mich herum zusammenbrach oder ich mich komplett verlaufen hatte. Du warst der Mensch, der mich immer so geliebt hat, wie ich war, selbst dann, wenn ich mich selbst nicht mehr leiden konnte.

Man sagt, wenn ein neuer Mensch geboren wird, stirbt ein anderer. Bist du gegangen, weil in einigen Tagen deine Ururenkelin geboren wird? Das hättest du nicht tun müssen. Hier wäre doch für euch beide genug Platz gewesen. Oder dachtest du etwa, dass ich nun keine Oma mehr brauche, weil ich selber eine werde? Dann hast du verkehrt gedacht.

Ich frage mich heute, ob ich dich bei meinem letzten Besuch doll genug gedrückt und geküsst habe. Ich hoffe so sehr, dass du immer gemerkt hast, dass ich dich liebe. Und ich wünsche mir so sehr, dass du jetzt, dort wo du ankommst, gut aufgehoben bist. Ich bin mir ziemlich sicher, dass der Opa schon lange auf dich wartet. Sag ihm doch, er soll schon mal anfangen, eine neue Schaukel zu bauen. Vielleicht etwas größer, als die in eurem Garten damals, denn ich bin ja schließlich gewachsen. Er kann sich dabei ruhig Zeit lassen, denn ich möchte noch eine Weile hier bleiben. Aber irgendwann werde ich mit dir, Oma, darauf zusammen sitzen und dann schauen wir nicht mehr hinauf zu den Wolken, sondern auf sie herab.

Du hast vor kurzem zu mir gesagt, dass du es immer so schön fandest, wenn ich fröhlich war und ich solle bloß nicht zu oft traurig sein, wegen der Menschen, die mich nicht zu schätzen wissen, denn sie wären einfach nur „blöd“.

Ich verspreche dir, Oma, dass ich bald wieder lache und nicht mehr wegen des Todes, der dich ungefragt mitgenommen hat, so viel weine…

… denn der ist auch einfach nur verdammt blöd.

Eine Antwort auf „Ich will dir noch was sagen, Oma!“

  1. Nun sitze ich hier und heule mir die Seele aus den Augen….so wundervoll geschrieben…ich spühre dich mit meiner Seele…
    Du bist für mich ein Engel, der seine Flügel verlor und sein Leben lang auf der Suche nach ihnen ist….DANKE DIR💖👍💖🙏

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