Ich bin mein Puzzle

In meinem System stimmt also etwas nicht? Irgendwas läuft bei mir nicht richtig. Deshalb bekomme ich immer öfter Vorträge zu hören oder zu lesen, was ich tun solle, damit meine Fehler (meine Schwächen) korrigiert werden.

Ich solle zum Beispiel nicht lachen, wenn mir zum Heulen ist. Wenn ich dann weine, weine ich aber zu viel. Ich soll offen sein, aber wenn mich meine eigenen Gefühle zu sehr berühren, soll ich mich davon abgrenzen und sie auch nicht jedem gleich um die Ohren hauen. Wenn ich zu viel Liebe in mir trage, gelte ich als bedürftig. Wenn ich wütend bin, reagiere ich sowieso viel zu emotional. Wenn ich oft still für mich bin, soll ich aufpassen, dass ich nicht vereinsame. Wenn ich schweige, soll ich doch mal was sagen. Wenn ich aber etwas zu sagen habe, rede ich zu viel. Wenn ich in Menschen etwas Gutes sehe, obwohl sie vielleicht mal nicht nett zu mir waren, klammere ich und idealisiere sie. Wenn ich traurig oder nachdenklich bin, soll ich mir positive Gedanken machen. Bin ich überaus gutgelaunt, erkenne ich wohl die Ernsthaftigkeit des Lebens nicht. Außerdem ziehe ich ständig die für mich falschen Menschen in mein Leben, weil ich keine klaren Grenzen setze. Steck ich diese jedoch mal ab, bin ich undankbar und überheblich. Ich wäre ambivalent, unsortiert und unbeständig. Aber die Ursache dieses – meines – ganzen Übels erkennen Menschen sehr schnell. Meine Kindheit! Die müsse ich unbedingt auf- und verarbeiten. Diese wäre die Ursache dafür, dass ich kein normales Mittelmaß in allem finde, angeblich keine Ausgeglichenheit.

Meine Kindheit war mit Sicherheit ziemlich mies und sie hat auch einiges mit mir gemacht. Aber war sie das Einzige, was mich geprägt hat? Hörten die Erfahrungen, die mich zu der Frau machten, die ich heute bin, danach auf? Nach dem Elternhaus ging es doch erst richtig los. Freunde, Feinde, Medien, eigene Kinder, Kollegen, Chefs, Nachbarn, Frauen, Männer usw. So viel mehr Menschen, als nur die Eltern und die Familie begegneten mir. Zudem erwischten mich im Laufe meines Lebens Regen, Hitze, Wind, Wasser, Blumen, Bäume, Sonnenauf- und -untergänge, frisches Gras, Wolken, ein Blühen und Verwelken. Ebenso waren da Freude, Enttäuschungen, Höhenflüge, tiefes Fallen, Existenzängste, aber auch Überschwenglichkeit, Liebe, Trauer, Gewinne, Verluste, Trennung, Krankheit und Tod. Jeder Mensch und jedes Ereignis hat irgendetwas mit mir gemacht. Jedes Gespräch, ob laut oder leise, hat genauso Spuren hinterlassen, wie jede Berührung, ob nun zärtlich oder gewaltig. Muss ich wirklich das alles auf- und verarbeiten, nur, weil ich vom Leben sanft und in vielen Jahren geformt wurde und nun, so wie ich bin, nicht in jede Vorstellung passe? Wieviel Zeit wird es mich kosten, in der Vergangenheit zu stehen, statt mich täglich im Jetzt zu bewegen und bewegen zu lassen? Ist mein System wirklich gestört, weil ich für dich nicht angenehm, nicht perfekt genug bin?

Weißt du, ich sehe mich als ein großes Puzzle und bin mir sicher, dass jedes Teil genau dort hingehört, wo es ist. Würde nur eines verformt oder weggenommen werden, wäre ich unvollständig. Alles, was mir bisher begegnet oder geschehen ist, wurde zu Puzzleteilen, welche an irgendeiner Stelle meiner eigenen Geschichte zusammenpassten. Ich bin jeder einzelne Moment meines Lebens, den du erfahren darfst, wenn du ihn mir lässt.

Denn ich habe keine Lust mehr auf die Vorträge von Jenen, die ihr Wissen aus irgendwelchen dreckigen, alten und abgestandenen Brunnen schöpfen, statt mir auf meiner Ebene – der des Herzens und der Seele, des Menschen – zu begegnen. Meist bezeichnen sie sich als spirituell, erleuchtet und erwacht. Sie können wunderbar stundenlang auf mich einreden und erkennen jedes Manko in mir. Ihr wirkliches Können beschränkt sich allerdings oftmals auf wundervolle Worte, die sie lediglich irgendwo gelesen oder gehört haben. Es sind nicht mehr ihre eigenen. Ich kann die wirklichen Menschen darin meist nicht mehr erkennen. Sie haben auswendig gelernt, was sie zu sagen, wie sie sich zu fühlen oder zu verhalten haben und verstecken sich hervorragend dahinter. Abgestumpfte, tote Seelen, die irgendwo und bei irgendwem Rettung für ihr eigenes Elend suchten.

Versteh mich nicht falsch. Jeder darf tun, was sich für ihn richtig anfühlt und was seine Seele braucht. Aber ich möchte nicht gerettet werden, sondern auf Menschen treffen, die ebenfalls ihre einzelnen Puzzleteile lieben. Menschen, die allein ganz genau wissen, woher ihre kleinen oder großen Schwächen und Eigenarten stammen, weil sie sich so oft selbst erfahren und hinterfragen, statt sich von anderen damit verunsichern zu lassen, dass an ihnen etwas falsch oder unverarbeitet wäre. Sie werden mir keine Vorträge halten, wenn ich in meinen traurigen, verzweifelten, rat- oder hilflosen Momenten, meinen Ängsten oder meinen irren Gefühlen feststecke. Diese Menschen können das, was iauch ich mit ihnen kann. Einfach nur still, aufmerksam, zuhörend, verstehend, akzeptierend und mich aushaltend da sein, weil sie nämlich genauso echt und unperfekt sind…

… genauso geformt und geprägt von der Unbeständigkeit und manchmal auch Willkür des Lebens.

Hape Kerkeling in der Schlussszene seines Filmes „Der Junge muss an die frische Luft.“:

Es hat eine Weile gedauert, bis ich es verstehen konnte. Das alles ist es, was ich bin. Ich bin meine Mutter, mein Vater, mein Bruder, meine Großeltern. Ich bin ihr Lachen und ihr Schmerz… Ich bin die Richtung, in die mich meine Mutter im Kinderwagen geschoben hat. Ich bin die gescheckte Kuh auf der Weide, das gelbe Korn auf dem Feld und der rote Mohn am Wegesrand. Ich bin der wolkenlose Himmel. Ich bin wach.“

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