Heilig und Schein

Scheinheiligkeit hat übrigens gar nichts mit Heiligenschein zu tun. Ich glaube, das muss ich einfach mal klarstellen. Denn ich bin gerade wahnsinnig satt davon.

Mir wurde in den letzten Tagen wieder einmal ganz deutlich vor Augen geführt, dass ich nichts weiter bin als ein winziges Rädchen im riesigen rotierenden Geflecht von Menschen. Das läuft auch prima, solange ich tadellos mitlaufe.

Ich bin aber kein verschleißfreies Teil einer Maschine. Ich bin ein Mensch, der durchaus mal physische Blessuren auskurieren muss. Ich bin lebendig mit all meinem Bauchgefühl und meinen Emotionen, nach denen ich dann auch handle. Wenn mein System auf irgendeine Weise strauchelt oder sich für einen Weg entscheidet, der nicht für jeden nachvollziehbar ist, bekomme ich plötzlich besondere Aufmerksamkeit. Im Job geschieht das in Form eines Tadels und in zwischenmenschlichen Beziehungen stoße ich auf Unverständnis und Belehrungen.

Ich habe es unglaublich satt, mich für mich selbst und mein Sein ständig erklären oder rechtfertigen zu müssen. Wo sind in diesem Moment plötzlich die bisher geheuchelte Menschlichkeit, die Empathie, das Verständnis oder die Wertschätzung mir gegenüber? Wo bleibt eigentlich jetzt gerade dieses Einander-So-Sein-Lassen und das Gerede von Liebe und Bedingungslosigkeit?

Pass ich nicht mehr ins Geflecht, wird sich großkotzig über mich gestellt. Klar, man ist ja auch nicht in meiner Situation. Dadurch ist man selbst besser und weiß auch alles besser. Natürlich sind sämtliche Vorhaltungen oder Ratschläge nur gut gemeint. Selbstverständlich will man mir damit nur helfen, wieder passend und geliebt zu sein. Aber wisst ihr was, ihr Bessermenschen? Mit euren Monologen und Ratschlägen erreicht ihr nicht, dass auch ich mich besser fühle. Im Gegenteil. Ihr macht mich traurig, weil eure bisherige Scheinheiligkeit sichtbar wird. Weil ich mir eures Verständnisses für das, was mich trifft oder betrifft, offensichtlich zu sicher war. Aber es ist wahrscheinlich leichter zu reden und zu versprechen als das Gesagte auch zu leben.

Egal auf welche Art und Weise ich den Schubladen, in die ich gesteckt wurde, entfliehe, jeder bemüht sich, mich erneut in eine bestimmte – in seine – zu pressen. Das funktioniert aber nicht. Ich kann nicht die Schmerzen meines Körpers ignorieren, nur um dem Wohl der Firma zu dienen. Ich kann mich nicht gegen mein Bauch- oder Herzgefühl stellen, nur um dem euren in eine andere Richtung zu folgen. Ich will mich auch nicht gegen Menschen entscheiden, nur weil ihr euch gegen sie entschieden habt. Denn wenn ihr das alles von mir erwartet, muss ich mich leider gegen euch entscheiden.

Ihr tragt keinen Heiligenschein, wenn ihr mir eure Wahrheit aufdrängen wollt. Die Scheinheiligkeit eurer bisherigen Worte legt ihr damit lediglich offen. Das ist schade, denn ich habe euch geglaubt, als wir gemeinsam von Zusammengehörigkeit, Loyalität, Verständnis oder eben auch Menschlichkeit und Liebe gesprochen haben. Aber dabei übersah ich wohl, dass die Gültigkeit dessen in dem Moment abläuft, wenn ich als kleines Rad euer rotierendes Geflecht aus Vorstellungen, wie etwas (wie ich) zu sein hat, eine Zeit lang nicht mehr bediene oder bedienen kann.

Mir stellt sich übrigens nie die Frage, ob ich besser euch folgen und gehorchen sollte. Schließlich macht ihr mich nur traurig. Nein, ich bin kein totes Teil eurer Maschinerie, der ihr so gerne den Heiligenschein aufsetzt, damit er eure eigene Scheinheiligkeit verbirgt.

Um mich selbst zu fühlen und zu leben, muss ich nämlich nur mir folgen. Dazu brauche ich lediglich meinem Körper und meinem kleinen verrückten Herzen ganz genau zuhören. Sie erzählen mir nämlich meine Wahrheit und nicht eure. Nur so spüre ich dann in Freude meine eigene gewaltige Lebendigkeit und Liebe auf einem scheinbar riesigen emotionalen Friedhof. Und dabei ist es egal, auf welche (manchmal auch schmerzhafte) Art und Weise sich diese Lebendigkeit und Liebe gerade ausdrücken möchten.

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