Geschriebene Gespräche

Im Januar dieses Jahres begann ich ein Buch zu schreiben. Dazu saß ich nicht am Computer. Ich nahm Tinte und schrieb mit der Hand. Denn alles, was ich in dem Moment zu Papier brachte, sollte genau so stehen bleiben, wie es gerade aus mir heraussprudelte. Jeder Fehler, jedes vergessene Komma. Keine Entfernen-Taste, kein Rückgängig-Machen, kein Speichern auf irgendeiner Festplatte. Diese Art Tagebuch begann ich für meine kleine Enkeltochter zu schreiben, die an diesem Tag im Januar erst fünf Wochen alt war.

Ich schrieb nicht täglich, nur dann, wenn ich das Bedürfnis hatte, ihr etwas mitzuteilen. Ja, ich begann, auf liniertem Papier mit dem Würmchen zu reden. Als ich sie das erste Mal, noch im Kreissaal, auf dem Arm hielt, waren so viele Wünsche und Gedanken in meinem Kopf. Aber eben nur dort. Deshalb saß ich an diesem Winterabend am Schreibtisch und begann das erste Gespräch mit ihr.

Die kleine Leevke sollte eines Tages etwas von ihrer Oma in der Hand halten. Mein Wunsch war es, dass sie später weiß, wer ich wirklich war, nicht vom Hörensagen, sondern von mir selbst. Ich wollte ihr meine Sicht auf das Leben, auf die Menschen, auf die Liebe und das Glück mit auf den Weg geben. Dazu erzählte ich ihr in ihrem ganz eigenen Tagebuch Episoden aus meinem Leben, von meinen Erfahrungen und Begegnungen. Nach drei Monaten hörte ich damit auf. Seitdem liegt das angefangene Buch in der Schublade.

Ich hatte im Januar begonnen, diesem kleinen Mädchen von den schönen, einfachen und doch wertvollen Dingen auf dieser Welt und in diesem Leben zu berichten. Aber während ich die ersten Seiten mit meinen Worten füllte und dabei unser Umfeld beobachtete, befürchtete ich, dass sie mich eines Tages für komplett bescheuert halten könnte. Vielleicht würde sie durch die Brille, welche ihr von Erwachsenen ungefragt aufgesetzt wird, meinem Blick nicht folgen und meine Worte nicht verstehen können. Eventuell wäre es besser, für die kleine Leevke, sie in diese Welt als eine von vielen mit dem Strom schwimmen zu lassen.

Die Maus ist jetzt ein dreiviertel Jahr alt. Wir lagen in den vergangenen Monaten im Gras und sie spielte neugiertig damit. Leevke blickte bereits mit mir aufs Meer und wir blinzelten gemeinsam aufgeregt auf das Glitzern im Wasser des Sees gleich hinterm Haus. Wir lagen ganz dicht auf der Wiese und beobachteten das Zwinkern der Sonne durch die wippenden Blätter der Bäume über uns. Auch den umwerfenden Sonnenuntergang bestaunten wir beide zusammen. Wir haben Spaß daran, ulkige Grimassen zu schneiden, wenn wir uns ansehen und beim Musikhören beginnt sie sofort mit dem Oberkörper hin und her zu wackeln. Sie tanzt scheinbar gerne. Leevke hat mir heute das erste Mal zugewunken und ja, High Five beherrscht sie nun auch schon.

Ich habe heute beschlossen, das Tagebuch für meine Enkeltochter weiter zu schreiben. Bevor sie in ein Konstrukt aus Erziehung, Bevormundung, ewigem Funktionieren, Perfekt-Sein und Oberflächlichkeit gepresst wird, habe ich ihr noch einiges zu sagen. Es ist mir wichtig, sie später mit diesem Buch an ihre kindliche Neugier, Offenheit und auch das Vertrauen in andere Menschen zu erinnern. Ich möchte, dass sie die Faszination des Einfachen, nämlich dieses Lebens, nicht vergisst. Ich wünsche ihr, dass Glück für sie die Dinge bedeuten, die sie nicht kaufen oder anfassen kann. Ich hoffe so sehr, dass sie sich von der Seele anderer Menschen berühren lässt, nicht nur von der Oberfläche. Genauso möchte ich ihr aber auch sagen, dass nicht Jeder, von dem sie sich irgendwann einmal angegriffen oder verletzt fühlen wird, ihr Feind ist. Oftmals wird nicht ihr angebliches Fehlverhalten die Ursache sein, sondern sie ist dann lediglich ein Kolateralschaden im Kampf eines anderen mit sich selbst. Sie möge verzeihen und verstehen können. Ich werde ihr ebenso noch tausende Worte über Liebe aufschreiben, die so viel mehr und so anders sein kann, als das übliche Liebesgedöns.

Das Tagebuch für die kleine Leevke soll einem jungen Mädchen, einer junge Frau, eines Tages Halt geben; dann, wenn ich vielleicht zu alt oder gar nicht mehr hier bin, um sie still im Lärm des Alltags zu begleiten. Dieses Buch soll ihr zeigen, dass das Leben bunt und auf keinen Fall ständig eine gerade Linie ist. Manchmal weiß man eben nicht, wohin es ausschlägt. Leevke möge diesen Kurven weiterhin mit Neugier folgen, sie zulassen, statt unaufhörlich zu versuchen, sie mit Unmengen an Kraft vergebens in eine Gerade biegen zu wollen. Irgendwer wird immer genau wissen und bestimmen wollen, wie ihr Weg auszusehen hat. Aber nur ihr eigenes Fühlen, Wahrnehmen, Annehmen, Sehen und offenes Herz werden sie und ihr Leben zu etwas Einzigartigem machen. Es wird sie dann immer wieder mit Spannung, mit Höhen, Tiefen und wunderbaren Begegnungen überraschen. Vielleicht können meine erlebten Geschichten und Worte diesem Leben meines Enkelkindes später ein wenig die Dramatik nehmen, welche dort draußen gerne inszeniert wird, und statt dessen mit innerer Stabilität, Freude und Farbe füllen.

Mir bleibt nur zu hoffen, dass die kleine Leevke eines Tages meine krakelige Schrift lesen und dann die Liebe ihrer Oma in jedem Buchstaben fühlen sowie meine stillen Gespräche mit ihr hören kann.

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