Einzelschicksal vs. Selbstliebe

Durch meinen Job beim Insolvenzverwalter arbeite ich in einer Branche, die im Grunde genommen vom finanziellen Desaster und Leid anderer Menschen lebt. Hinter all den Aktenzeichen verbergen sich aber auch Lebensgeschichten. Im Laufe der Jahre, die so ein Verfahren dauert, werde ich oftmals mit dem Alltag und dem Leben dieser Menschen konfrontiert. Am Telefon erfahre ich von Verlusten, Ängsten, Krankheiten und sehr oft vom Tod.

Da ist zum Beispiel der Familienvater, der plötzlich nicht mehr arbeiten kann, weil er psychisch erkrankt ist. Sein Leben ist aus dem Gleichgewicht geraten, seit er erfuhr, dass sein sechsjähriger Sohn mehrfach sexuell missbraucht wurde. Da ist die alleinerziehende Mutter von drei Kindern, die in zwei Jobs arbeitet, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Ich sprach mit dem Mann Mitte 50, der nach jeder erneuten Operation hofft, den Gehirntumor besiegt zu haben. Seine Frau hat ihn nun verlassen, weil sie mit der Situation nicht mehr leben konnte und der Tumor ist erneut gewachsen. Da ist die Mutter, welche in Gegenwart ihrer Kinder häusliche Gewalt erleben musste. Ich hatte auch den älteren Fernfahrer am Telefon, der nach über einem Jahrzehnt in der Firma morgens bei Arbeitsbeginn völlig unvorbereitet seine Kündigung auf dem Fahrersitz liegen hatte.

Ganz oft denke ich an den Mann, so alt wie ich, der bereits palliativ im Hospiz betreut wurde und das Insolvenzverfahren schnell vorzeitig beenden wollte. Seine Familie sollte nicht seine Schulden erben. Er arbeitete vom Krankenbett aus hervorragend mit und ich beeilte mich mit der Bearbeitung. Im letzten Telefonat versprach ich ihm, dass wir es noch vor seinem Tod schaffen werden. Meine letzte E-Mail wurde dann nicht mehr beantwortet. Wir haben es nicht geschafft.

Und dann war da noch die Frau, die mich an einem Freitagnachmittag anrief. Sie war völlig aufgelöst und weinte. Das Einzige, was sie ins Telefon rief, war: „Sie müssen mir helfen. Ich brauche doch etwas zu Essen, zu Trinken und Futter für meine Katze.“ Auf meine Frage nach ihrem Problem, bekam ich als Antwort nur lautes Schluchzen. Ich musste eine Weile auf sie einreden, bevor ich erfuhr, dass sie gerade am Kassenschalter ihrer Hausbank stand und man ihr kein Geld auszahlen wollte. Weshalb, das konnte sie mir nicht sagen. Stattdessen wiederholte sie immer wieder verzweifelt und weinend ihre Bitte nach Hilfe, damit sie und ihre Katze übers Wochenende versorgt wären.

Es war ein schwieriges Telefonat, bei dem mir auch der Bankangestellte nicht helfen wollte, denn er weigerte sich pandemiebedingt, das Telefon der Frau in die Hand zu nehmen, um mir zu erklären, welches Problem bestand. Stattdessen konnte ich mithören, wie er seine weinende Kundin barsch aufforderte, ihre Maske gefälligst wieder ordnungsgemäß aufzusetzen, während sie sich die Nase schnäuzte. Ich musste selbst erahnen, was die Lösung des Problems sein könnte. Also setzte ich ein kurzes Schreiben an die Bank auf und faxte es sofort dorthin. Mehr war mir nicht möglich und ich hoffte, dass es ausreichen würde.

Um nach diesem Telefonat durchzuatmen, zog ich meinen Mantel über und ging mit einer Zigarette vor die Bürotür. Eine Kollegin folgte mir kurz darauf. Sie wollte wissen, was mit mir los sei. Ich erzählte ihr von dem Telefonat und wie ich mich gerade fühlte. Sie legte mir die Hand auf den Arm und sagte lächelnd: „Ach komm, das ist doch nur ein Einzelschicksal.“

Nur ein Einzelschicksal! Ich war erschrocken.

Diese Kollegin hatte mir einige Tage zuvor stolz davon berichtet, dass sie an ihrer persönlichen Weiterentwicklung arbeitet und sehr gut vorankommt. Sie beschäftigt sich abends mit geführten Meditationen, lauschst den Podcasts von diversen Coaches und schaut Videos kluger Trainer. Bisher dachte ich mir, es ist okay, wenn es ihr hilft. Die Grundzutat ihrer Weiterentwicklung nennt sich dabei Selbstliebe. Diese soll helfen, sich abzugrenzen, um weniger emotional auf andere Menschen und deren Geschichten zu reagieren. Es steht für mich außer Frage, dass man sich immer zuerst um sich selbst gut kümmern sollte. Denn sonst kann ich ohnehin anderen Menschen keine Hilfe sein. Aber, wenn diese Selbstliebe dahingehend ausufert, dass ich die Hilflosigkeit und Not eines anderen Menschen als nichtig erachte, bin ich dann auf dem richtigen Weg?

Ich selbst ertrage das Wort Selbstliebe einfach nicht mehr und wenn diese dermaßen in Arroganz und Ignoranz mündet, stagniere ich sehr gerne in meiner eigenen Weiterentwicklung. Es wirkt auf mich so lächerlich… Der Mensch bäumt sich großkotzig auf und will die Welt retten; aber nicht, indem er sich dafür bewegt, sondern so bequem wie möglich, mit ein paar Klicks vom gemütlichen Sofa aus. In all dem tastatur- und mausgesteuerten Wichtigtun und der Aufklärung über das große Ganze, wird das, was direkt neben uns geschieht, scheinbar großzügig übersehen.

Diese weinende Frau am Freitagnachmittag ist von Beruf Kellnerin. Sie muss zurzeit von Sozialleistungen leben; nicht, weil sie nicht arbeiten will, sondern weil sie durch die Willkür und die Bestimmungen von anderer Stelle seit Monaten nicht arbeiten darf. Ja, sie ist nur eines von vielen Schicksalen. Aber bin ich selbst nicht auch nur ein kleines einzelnes? Wer wird für mich aufstehen, wenn ich mal Hilfe benötige? Wer wird meine Verzweiflung ernst nehmen, wenn jeder nur wohlwollend in seiner Selbstliebe badet? Nein, ich will und kann nicht die ganze Welt retten. Aber ich kann durchaus an einem Freitagnachmittag das Problem eines Anderen ernst nehmen, einen Zweizeiler schreiben, ein paar Meter zum Faxgerät laufen und dieses einem überheblichen und ignoranten Bankangestellten schicken, damit irgendwo eine Frau aufhört zu weinen.

Dabei geht es mir nicht um Dank oder darum, ein besonders guter Mensch zu sein. Nur menschlich bleiben, das möchte ich, auch dann, wenn andere das im Rausch ihrer grandiosen Weiterentwicklung durch Selbstliebe als Schwachpunkt in meiner Persönlichkeitsentwicklung ansehen.

Und als dieser Mensch, den ich versuche, mir zu bewahren, schmunzelte ich am Montagmorgen bei dem Anruf einer Frau, die sich mehrfach dafür bedankte, dass sie bereits am Samstag nach unserem Telefonat Essen, Trinken und Futter für ihre Katze kaufen konnte…

… und diesmal lachte sie ins Telefon.

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