Du musst nur loslassen

In den vergangenen Tagen hatte ich unterschiedlichste Gespräche über das Loslassen. Jeder kennt das. Wir vertrauen uns jemandem an und erzählen von Situationen oder Menschen, die uns Bauchschmerzen bereiten. Wir fühlen uns nicht ganz wohl dabei oder spüren, dass uns jemand auf Dauer nicht gut tut. Dann ist die gängigste Antwort: „Du musst loslassen.“ Diese Antwort ist schnell gegeben. Sie ist quasi schon zu einem Slogan geworden. Aber funktioniert Loslassen-Müssen wirklich so einfach, wie es sich sagt? Ich behaupte, dass ich keinen Einfluss auf dieses endgültige Loslassen habe. Ich kann es tun, kann Situationen und Menschen auf Kommando verlassen. Aber ist es ein wirkliches Loslassen, wenn ich es tun „muss“? Ich habe für mich festgestellt, das Loslassen von selbst geschieht, dann, wenn mir die Situation oder der Mensch gleichgültig werden.

Vor ein paar Jahren zog ich in ein Mietshaus. Es war die Wohnung meiner Oma, die aufgrund ihres Alters zwei Etagen tiefer gezogen war. Ich verband mit meiner neuen Wohnung die schönsten Kindheitserinnerungen und liebte dieses große von Licht durchflutete Wohnzimmer, dem Himmel und der Sonne näher als vorher. Bereits nach kurzer Zeit beschwerten sich meine Nachbarn unter mir (welche mich bereits als Kind kannten) darüber, dass mein Kater zu laut durch die Wohnung springe und laufe. Ich nahm das anfangs gar nicht ernst. Mein kleiner Joshy war erst ein paar Monate alt und bestimmt kein Schwergewicht, welches den Boden vibrieren ließ. Die Nachbarn wurden lauter und es begann ein regelrechter Psychoterror. Sie lauerten mir im Hausflur auf, um mich zu beschimpfen. Sie klopften gegen Wände und Heizkörper, selbst, wenn ich es war, die sich in der Wohnung bewegte. Sie drohten mit Anwälten und informierten die Hausverwaltung. Irgendwann zuckte ich bei jeder Bewegung meines kleinen Katers zusammen. Diese Menschen machten mir Angst. Das ständige Klopfen und teils auch Gebrüll aus der Wohnung unter mir war für mich kaum noch zu ertragen. Es tönten erste Stimmen, dass ich ausziehen, dass ich loslassen solle. Meine eigene innere Stimme eingeschlossen. Aber ich hing an dieser Wohnung. Ich wollte in Omas Nähe bleiben und hier alt werden. Ich konnte nicht loslassen, obwohl ich wusste, nur ein Auszug würde mir meinen Frieden wiedergeben.

Eines Tages kam ich von der Arbeit nach Hause und die Wohnung war leer. Mein damaliger Partner war ausgezogen und hatte unseren kleinen Kater mitgenommen, weil er meine Angst und meine angeschlagene Psyche nicht mehr aushalten konnte An diesem Abend saß ich allein starr auf dem Sofa. Dort, wo noch am Morgen der Kratzbaum gestanden hatte, gähnte Leere, wo die Schuhe meines Partners sonst standen, ebenfalls. Ich hatte mich an dieser Wohnung festgekrallt und dabei verloren, was mir wichtig war. In diesem Moment hatte das große helle Wohnzimmer plötzlich keine Bedeutung mehr. Auch die Liebe zu meiner Oma wurde zweitrangig. Hier ging es um mich. Erst in diesem Moment geschah das Loslassen. Es passierte von ganz allein. Ich „musste“ gar nichts dafür tun. Mir wurde alles egal und ich mir selbst dabei wieder wichtig. Einige Wochen später zog ich aus.

Da war auch dieser Mensch, der in meiner Nähe war, wenn er mich brauchte oder Lust auf gemeinsame Zeit hatte. Ich half ihm ständig aus der Not, war sein Seelsorger und immer für ihn da, wenn es sonst niemand war. Er aber schubste mich immer wieder weg und holte mich dann zurück, wenn er mich gebrauchen konnte. Auch hier waren es die eigene und fremde Stimmen, die mich ans Loslassen erinnerten. Ich konnte nicht, weil ich immer noch gute Seiten an ihm erkannte, obwohl er mir nicht mehr gut tat und mich nach seinen Befindlichkeiten benutzte. Dann wurde ich krank. Ich fühlte mich allein und ziemlich hilflos. Als ich ihn fragte, ob er nicht zu mir kommen und ein Weilchen bleiben könne, war die Antwort, es ginge ihm selber nicht so gut und ich solle aus seinem energetischen Feld verschwinden, damit er gesund wird. Das würde ich nämlich mit meiner Erkrankung verhindern. Ich war so schwer getroffen, dass in diesem Moment etwas den Schalter in mir umlegte. Dafür musste ich mich nicht einmal anstrengen. Auch hier geschah das Loslassen von allein. Kein Schönreden und kein Gefühl mehr für diesen Menschen. Es war einfach weg. Ich hatte ihn losgelassen.

Wir können Situationen oder Menschen auf Anraten von außen oder unserer inneren Stimme verlassen. Aber wenn wir es auf Befehl oder Zuruf tun, wird es sich nie richtig anfühlen. Beim Loslassen-Müssen werden sich immer Zweifel einschleichen, ob es richtig ist, solange wir einer Situation immer noch etwas Gutes abgewinnen oder für Menschen noch irgendetwas fühlen. Loslassen geschieht dann, wenn ich nichts mehr spüre, außer Gleichgültigkeit und gleichzeitig Erleichterung beim Ver(Los-)lassen. Wenn Menschen mir erzählen, dass sie wissen, sie müssen loslassen, dann nicke ich. Natürlich weiß ich, dass sie es wissen. Ich selbst weiß ja auch, was sich für mich nicht stimmig anfühlt und was ich loslassen müsste. Aber solange mich in einer Situation noch etwas hält, solange ich für einen Menschen noch etwas Liebevolles empfinde, würde es mich Kraft kosten, mich dagegen zu stemmen. Warum soll ich mich quälen? Loslassen soll einfach sein, mich schließlich erleichtern. Ich gebe mir Zeit dafür. Wenn mir diese scheinbar für alles angepriesene Lösung. wenn mir Loslassen, allerdings noch schwer fällt, dann soll es eben noch nicht sein, aus welchem Grund auch immer.

Aber ich weiß auch, wenn mich etwas zerreißt oder mich jemand zerbricht, wird der Schmerz mich öffnen und meine Seele selbstständig alles raus-/loslassen, was nicht mehr zu mir gehört…

… dann wird das Loslassen zur Freude und Befreiung, nicht mehr zum Kampf mit mir selbst.

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