Die Fremde am Telefon

Ich hatte heute ein sehr langes Telefongespräch mit einer Fremden. Ja, man hat sich im Social-Media-Geflecht kennengelernt, aber was sind schon diese Plattformen? Es ist ein virtuelles Kennenlernen, bei dem man meist an der Oberfläche, nur an dem, was der andere zeigt, wie er sich darstellt, hängen bleibt. Eben nur liken und dann weiterscrollen. Manchmal bemerkt man allerdings schon Gemeinsamkeiten und dass man sich für diesen Menschen hinter dem Account interessiert. So war es auch bei mir. Deshalb ergab sich heute ein ganz spontanes Telefonat.

Vom ersten Wort an war ich fasziniert von der Frau, die so weit weg und mir doch plötzlich so nah war. Da gab es keinen oberflächlichen Smalltalk. Wir kamen ohne peinliches, befremdliches Schweigen von einem Thema zum anderen. Sie erzählte mir aus ihrem Leben. Davon, wie ihre Kinderheit war und wie sie das Leben sieht. Sie sprach von ihren Kindern und den Partnern, die ihren Weg eine Weile mitgingen. Es war so krass, denn ich erlebte eine Frau, deren Episoden des Lebens meinen so verdammt ähnlich waren. Und während sie erzählte, konnte ich jede Geschichte mitfühlen, da ich sie selbst doch fast genauso erlebt hatte. Als sie von ihrem Sohn sprach und vor Rührung bei der Erinnerung an einen bestimmten Moment kurz weinte, kullerten plötzlich meine eigenen Tränen auf mein Telefon. Ich erschrak vor mir selber. Wann hatte mich das letzte Mal ein Mensch so berührt, dass ich mit ihm weinte?

Auch ich begann ihr von mir zu erzählen. Ich redete über mein Leben und über Dinge, welche ich mit den Menschen in meinem direkten Umfeld schon lange nicht mehr teilen kann und die ich deshalb in letzter Zeit nur noch mit mir selbst besprach. Ich durfte endlich mal zu den Gefühlen, die einfach da sind, egal, ob sie mir gefallen oder nicht, stehen und über sie reden, ohne dafür verurteilt oder belehrt zu werden. Ich wurde einfach nur ohne viele Worte verstanden.

Heute hatte ich das Glück, einer Frau zu begegnen, die so stark ist, dass sie sich erlaubt, auch schwach zu sein. Eine Frau, welche wie eine Löwin kämpfen und sich trotzdem ihrer Verletzlichkeit mutig stellen kann. Ich lernte eine Frau kennen, die viel zu oft vom Schicksal geohrfeigt wurde und das Leben trotzdem noch so sehr liebt. Ich sprach mit einem wundervollen Menschen, der aber vor allem sich liebt und deshalb auch in erster Linie auf sich und das eigene Bauchgefühl hört, egal welche Stimmen im Außen dazwischen plappern.

Nach dem Telefonat lächelte ich ein wenig in mich hinein. Denn heute trafen zwei Frauen aufeinander, die sich eben noch gegenseitig sagten, dass sie zwar dem Leben an sich, aber nicht mehr den Menschen blind vertrauen könnten. Und doch war im nächsten Moment so viel Vertrauen da, dass man Erlebtes, Gefühltes und Erfahrenes der Fremden am anderen Ende des Telefons einfach erzählte. Ich habe heute ein Geschenk erhalten, eines ohne Glitzerverpackung und pompöse Schleife, vom ersten Moment an einfach nur authentisch und ehrlich. Und dieses Geschenk und das Vertrauen werde ich sorgfältig hüten, weil es mir sehr wertvoll erscheint.

Ich bin mir sicher, dass dort draußen eine Menge solcher Geschenke zu finden sind. Wir müssen uns nur gegenseitig erkennen. Mir jedenfalls tat es unheimlich gut, zu sehen, dass ich mit meinen eigenen Geschichten nicht allein dastehe, dass meine Zweifel an der Richtigkeit des eigenen Fühlens gar nicht nötig sind und dass meine einfache Sicht auf das Leben an anderer Stelle geteilt wird.

Deshalb, wenn ihr euch in den sozialen Netzwerken begegnet, dann schreibt euch doch einfach mal ein paar Worte, interessiert euch füreinander und greift ruhig mal zum Telefon, um zu erfahren, wer sich hinter einem Profilbild oder einem Posting verbirgt. Es kann ein Reinfall werden, aber im Idealfall auch eine Bereicherung für beide Seiten. Ich weiß, dass es unter euch so viele wundervolle, interessante Menschen gibt, denn das durfte ich schon öfter in Nachrichten erfahren, die ihr mir schreibt oder bei direkten Begegnungen in meiner Heimatstadt.

Schreibt bitte weiter und zeigt euch auch anderen. Lernt euch kennen und lasst euch von einem bis dahin fremden Menschen berühren und berührt selbst…

… so, dass es am Ende des Tages vielleicht gar kein Fremder mehr ist.

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