Bei dir kann ich sein

„Bei dir kann ich sein, wie ich bin.“ Diesen Satz sagte vor kurzem jemand zu mir und er hat mich damit unwissentlich ganz tief berührt. Dieser Mensch ist jemand, der auch mir seit Beginn unserer Begegnung das Gefühl gibt, immer sein zu können, wie ich bin. Und ich bin gewiss nicht immer einfach. In seiner Gesellschaft kann ich alles sein; albern, nachdenklich, zweifelnd oder auch ängstlich daher kommend. Ich kann dort lachen, aber ebenso auch mal weinen, wenn meine Gefühle und Emotionen Achterbahn fahren. Ich kann sagen, was raus muss oder auch für mich behalten, worüber ich nicht reden möchte. Ich bekomme das Gefühl geschenkt, dass ich mich für nichts verstecken oder gar schämen müsse. Was mich an dieser Aussage so sehr berührt, ist, dass wir beide trotz unseres gemeinsamen So-Sein-Könnens zwischenzeitlich auf Distanz gehen.

Uns verbinden seit unserem Kennenlernen hunderte Stunden intensive Gespräche, eine Menge gemeinsam geträumte Träume und ausgelebte verrückte Ideen. Wir schufen bereits gemeinsame Projekte und lungerten mit derselben Begeisterung an manchen Tagen nichts tuend und weintrinkend einfach nur herum. Jeder kann etwas anders besonders gut und genau damit unterstützten wir uns bisher gegenseitig und ernsthaft. Wir haben über uns selbst zig Male gelacht und genauso oft Blödsinn veranstaltet. Die gemeinsame Zeit erscheint immer wieder leicht und ohne Dramen oder komplizierte Diskussionen. Wir kennen einander ziemlich genau die Stärken und Schwächen des Anderen. Und genau mit diesen können wir unbedacht und frei im Miteinander sein, ohne den Versuch, gegenseitig etwas am anderen ändern zu müssen. Aber jedes Mal, wenn durch all diese Gemeinsamkeiten zu viel Nähe und Vertrautheit, vielleicht sogar Intimität, entsteht, fliehen wir quasi voreinander. Wir gehen uns eine Weile aus dem Weg.

Anfangs ging diese Flucht nur von der anderen Seite aus und ich suchte lange verzweifelt Antworten nach dem Warum. Mittlerweile bemerke ich, dass ich selbst zu einer Flüchtenden werde. Den Grund für dieses Distanzverhalten kann ich natürlich nur aus meiner Sicht benennen. Mir scheint, wenn es zu nah wird, steigt Angst auf. Es ist die Angst, dass unbemerkt im unbekümmerten wilden Tanz der eigenen freien Seele mit der ebenso freien Seele eines anderen Menschen eine Fessel entsteht. Es ist die Sorge, dass wir dann an einem Punkt ankommen, an dem wir in Gegenwart des Anderen plötzlich nicht mehr sein können, wie wir sind, weil sich Gewohnheit, Anpassung oder sogar Abhängigkeiten einschleichen. Dann müsste man sich vielleicht verformen und einen Teil von sich selbst aufgeben, sich anstrengen, um dem Anderen weiterhin zu gefallen und ihn auf Dauer bei sich halten zu können. Es ist der Gedanke, dass man dafür den offenen Raum, in dem wir uns so gerne begegnen, durch zu viel Nähe, aber auch Berührung, einengt und verbarrikadiert. Solange die Nähe nicht zu nah ist, bleibt schließlich alles offen. Natürlich weiß ich, dass diese Gedankenmuster auf Erfahrungen beruhen. Das ist die Folge dessen, was wir bereits in vorherigen Freundschaften oder Partnerschaften erlebten. Diese projizieren wir nun voller Inbrunst in die Begegnung mit einem ganz anderen Menschen. Wir haben schließlich einen Grad an Freiheit erreicht, den wir nicht mehr bereit sind, aufzugeben. Uns könnte ja das passieren, was wir früher schon mal erlebten.  

Das ist eigentlich absurd, wenn man sich, wie wir beide, nie, auch nur ansatzweise, versucht hat, einzuengen. Es wirkt dumm und unverständlich,  sowas zu prophezeien, weil wir uns doch gerade in dieser absolut freien Begegnung wohlfühlen.

Aber vielleicht ist die Leichtigkeit, die Freiheit und Unbeschwertheit, die wir bisher miteinander (er)lebten, nicht glaubwürdig. Wir trauen all dem nicht. Es ist nach unseren bisherigen Erfahrungen nicht vorstellbar, dass die Begegnung zwischen einem Mann und einer Frau auf Dauer leicht und dramenlos funktionieren, dass unterschiedliche Meinungen und Ansichten zum bereichernden Austausch, statt zu Streit und stressbehafteten Konflikten führen können. Wir haben es so bisher schließlich noch nie erfahren. Also kann es so einfach auch nicht sein. Da muss es einen Haken geben. Somit geht man, wenn sich Fluchtverhalten einstellt, für eine Zeit lang dorthin, wo Nähe nicht als Gefahr erscheint und unterschiedliche Kostüme über die eigene Nacktheit und Verletzlichkeit gelegt werden können. Distanz wird dann zur Waffe gegen die Angst vor dem befürchteten Verlust der Eigenständig- und Einzigartigkeit, aber auch vor Nähe und Tiefe. Und diese Waffe kann durchaus auch mal Schmerz zur Folge haben, auf einer der beiden Seiten.  

Sicherlich ist es sehr schade für zwei Menschen, wenn man sich, geprägt durch alte Muster und Konditionierungen, etwas Wertvollem und Schönem nicht hingibt, sondern den Zweifeln das Feld überlässt. Ich empfinde es manchmal, als ob wir dadurch das grelle gemeinsame Leuchten unserer geteilten unbändigen Lebensfreude extrem dimmen. Aber auch ich halte dieses Brennen nicht immer aus. Ich kann es nicht glauben.

„Bei dir kann ich sein, wie ich bin.“ hat mich, als Part zweier stetig Flüchtender, trotz allem erstaunlicherweise sehr tief berührt. Ich betrachte die Worte als Geschenk an mich, überreicht von einem Menschen, der sich mit allem, was er ist, so wie er ist, in meiner Gegenwart wohlfühlt. Mir persönlich sind sie im Augenblick wertvoller und wichtiger, als jeder krampfhafte Versuch, etwas zu erkämpfen, was nicht frei fließen kann, aus welchen bescheuerten Gründen auch immer.

Somit bin ich einfach nur dankbar dafür, dass auch ich beim nächsten Aufeinandertreffen nicht gefallen muss, sondern, dass ich sein kann, wie ich bin; frei tanzend in unserer gewohnten Leichtigkeit…

… zumindest solange, bis Nähe beängstigend nah und Vertrauen wieder zu vertraut wird.

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