Gestern war ich zum Kaffeetrinken mit einer ehemaligen Kollegin verabredet. Sie erzählte von dem plötzlichen Tod ihrer Schwester. Diese war bei einem Ostseespaziergang mit ihrem Mann am Strand einfach umgefallen und gestorben. Während ich noch dachte, dass auch ich gerne so sterben möchte, erzählte sie mir, dass sie in den vergangenen Jahren kaum Kontakt zu ihrer Schwester gehabt hat. Ich hatte das Gefühl, dass ihr das jetzt sehr leid tut.
In mir tauchen nun Erinnerungen an meine Großtante auf. Sie lebte, nachdem sie als junge Frau von ihrem Mann verlassen worden war, allein. Nein, eigentlich war sie nicht allein. Sie lebte für das kleine Dorf, in dem sie wohnte. Sie engagierte sich für Kollegen, Freunde, die Nachbarn, die Kirche… für jeden im Ort. Und sie war eine Meisterin des Backens. Ihre Kuchen, Torten und Kekse kannte und liebte jeder. Sie versorgte auch alle damit, ihr ganzes Leben. Selbst als die Familie sie nach ihrem Schlaganfall in die große Stadt geholt hatte, zauberte sie ihre Leckereien am heimischen Herd weiter für die Menschen in diesem Dorf. Gerade zur Weihnachtszeit bekam sie jedes Jahr von dort sehr viel Besuch. Jeder nahm gerne ihre Plätzchen, Vanillekipferl oder was immer noch so in unzähligen Stunden im Backofen entstanden war.
Meine Tante war ungefähr 86 Jahre alt, als es ihr schwer fiel, am Küchentisch und am Backofen freihändig zu stehen. Backen konnte sie nicht mehr. Es kam die letzte Weihnachtszeit, die sie noch in ihrer eigenen Wohnung verbringen konnte. Ein Sonnenschein war sie, immer fröhlich und voller Optimismus. Und sie sagte damals so oft: „Nun werden bestimmt die Anderen kommen und mir Kekse bringen.“ Aber es kam niemand. Sie saß auf ihrem Sofa und wartete, doch es brachte ihr in diesem Jahr niemand Kekse und Plätzchen aus dem kleinen Ort. Sie sprach nie Vorwürfe oder ihre Enttäuschung aus, aber ich konnte sehen, dass sie traurig war, sehr traurig. Leider sind meine Backkünste ziemlich begrenzt. Deshalb blieb mir nur, ihr Kekse aus der benachbarten Bäckerei zu besorgen. Aber diese verdammte Traurigkeit konnte ich ihr damit nicht nehmen. Denn es ging ihr nicht um die Plätzchen, sondern um die Menschen.
Meine Tante starb mit 89 Jahren Heilignacht im Pflegeheim. Plötzlich. Auf der Beerdigung waren sie da, die guten Freunde und Nachbarn aus dem Dorf. Sie fragten nach Geschichten, die ich ihnen noch von ihr erzählen konnte. Und immer wieder hörte ich Sätze mit „Ich wollte ja noch, aber…“, „Ich hatte leider keine Zeit…“ oder „Ach, hätte ich geahnt, dann…“. Was glaubten diese Leute denn? Dass eine 89jährige noch Jahrzehnte wartet, bis sie denn mal Zeit hätten? Ein bisschen verrückt, oder? Ich war still, während die anderen so viel redeten und ich konnte unter Tränen lächeln auf dieser Beerdigung. Schließlich war ich ein paar Tage vor ihrem Tod noch bei meiner Tante gewesen. Meine Tochter spielte auf der Gitarre Weihnachtslieder und wir sangen mit ihr. Es war so herrlich, diese weißhaarige Frau lächelnd den Refrain von Leonard Cohens „Halleluja“ mitsingen zu sehen und zu hören. Sie hatte doch nie englisch gelernt.
Warum schreibe ich diese Gedanken auf? Weil mich Menschen manchmal sprachlos und wütend machen. Solange sie dich gebrauchen können und einen Nutzen von dir haben, sind sie da. Sie heucheln Freundschaft, Verständnis, vielleicht sogar Liebe. Aber dann, wenn du nicht mehr funktionierst, ihnen nichts mehr nützt und sie mit dir nichts mehr anfangen können, fehlt ihnen angeblich die Zeit. Sie „würden“ ja oder „hätten ja gerne…“, aber sie TUN es nicht. Umgekehrt klappt es übrigens auch ganz gut… Jene, die sich bisher nie für dich und dein Leben interessierten, sind auf einmal da und bekunden ungeheures Mitleid, Verständnis und Fürsorge. Sorry, mich ekelt so viel Falschheit an.
Ich bin nun mal die, die es wirklich ehrlich meint, wenn ich dir sage, dass ich dich mag, dass ich dich liebhabe oder dass du mir wichtig bist. Deshalb bin ich dann auch die, die dich einfach mal grundlos mit ihrer Anwesenheit überfällt. Die, die alles stehen und liegen lässt, wenn du mit mir einfach nur einen Kaffee trinken willst. Manchmal auch die, die ohne Nachzudenken viele Kilometer weit drauf los fährt, nur um ein paar Stunden bei dir zu sein, wenn du gerade den Boden unter den Füßen verloren hast. Ich bin die, die auch mal unangemeldet mit Pizza und Rotwein vor deiner Tür steht, um dich lachend aus deinem Trott heraus zu holen. Auch die, die Zeit hat, wenn du Hilfe brauchst, falls du mal nicht funktionierst. Die, die dir still zuhören, aber dich auch mit Blödsinn zuquatschen kann. Glaub mir, ich habe so viel von dieser Zeit, wenn du sie dann auch von mir möchtest.
Denn unser Körper ist nun mal nicht für die Ewigkeit bestimmt. Die Krankheit, der Unfall oder auch der Tod verkünden ihr Erscheinen in den seltensten Fällen vorher. Sie winken uns nicht rechtzeitig heran, damit wir noch etwas Zeit mit jemandem verbringen können. Deshalb will ich diese wenigen, mir wirklich so wichtigen Menschen nicht verpassen. Ich will mit ihnen leben, lachen und sie lieben. Nicht irgendwann, nicht nächstes Quartal, nicht erst kommende Weihnachten, sondern jetzt… So oft es möglich ist. Auch, wenn ich sie manchmal damit erschrecke.
Denn eines ist sicher. Ich werde nicht eines Tages auf irgendeinem Friedhof stehen und sagen: „Ich wollte doch noch…“ Nichts kann wichtiger sein in diesem Leben, als ein Mensch, den wir ehrlich lieben, gar nichts!