Stillstand

Heute früh lag ich bei geöffnetem Fenster wach im Bett. Ich stand nicht auf, sondern blieb eine Weile einfach so liegen. Es war irgendwo zwischen 8.00 und 8.30 Uhr. An einem normalen Samstagmorgen höre ich um diese Uhrzeit sonst bereits Kinder, Stimmen der Nachbarn auf der Straße, Schritte, die zum nächsten Supermarkt tippeln und eine Menge Autos auf dem Weg in die Einkaufscentren.

Aber heute früh hörte ich nichts, außer Vögel. Sie schienen lauter als sonst in der Morgensonne ihren Gesang zum Besten zu geben. Ich lag einfach da und genoss dieses Aufwachen.

Noch vor einigen Tagen brach ich unter der Flut dessen, was auf mich einstürzte, fast zusammen. Es war für mich kaum auszuhalten. Bei der Arbeit im Büro waren die Ängste und Sorgen der Kollegen zu fühlen, wahrscheinlich auch meine. Die Meldungen der Medien taten ihr Übriges, denn irgendwann war es auch mir nicht mehr möglich, dem zu entkommen. Ich wusste nicht mehr, wem und was ich glauben sollte.

Und dann war da der Moment, als ich auf den (zu dem Zeitpunkt noch nicht abgesperrten) winzigen Spielplatz hinter meinem Haus kam. Dort saß meine Tochter ganz allein mit ihrer einjährigen Tochter. Sie hatte sich für diesen kleinen Sandkasten entschieden, da sie den Kontakt zu anderen Kindern und Eltern vermeiden wollte. Als ich vor meiner kleinen Enkeltochter stand, hielt sie mir ihre Ärmchen entgegen und lachte mich an. Ich sollte sie auf den Arm nehmen. Aber ich konnte nicht. Da waren die Meldungen in meinem Kopf, dass Großeltern sich in Acht vor ihren Enkelkindern nehmen müssten, da diese oftmals als Wirt für diesen verdammten Virus dienen. Ich stand erstarrt vor der kleinen Maus und ging keinen Schritt auf sie zu. Es fühlte sich fürchterlich an. Und dann sagte sie: „…ma“ (das O vergisst sie manchmal noch) und krabbelte auf mich zu, um mir dann vor meinen Füßen erneut ihre Arme entgegen zu strecken. Ich mussste sie einfach hochheben und drücken, auch wenn ich das Knuddeln und Knutschen diesmal wegließ.

An diesem Abend war die gesamte Situation für mich nicht mehr zu ertragen. Ich saß zuhause und weinte fürchterlich. Ich fragte mich, was da mit mir geschieht. Bisher hatte ich keine Angst und nun wurde ich scheinbar von ihr eingeholt. Dazu machten mir auch die Menschen Angst, die vom Parkplatz der Supermärkte mit großen Autos ihre riesigen Vorratseinkäufe wegschafften, ohne an jene zu denken, die nur kleine Tüten tragen bzw. mit ihrem Rollator transportieren konnten. So viel Gleichgültigkeit verursachte zusätzlich Fassungslosigkeit und auch Traurigkeit in mir. Ich musste mich irgendwie aus dem unguten Gefühl und der beginnenden Angst selbst befreien.

Zunächst begab ich mich eigenmächtig ins Homeoffice, bevor mein Chef von seiner Dienstreise aus einem eindeutigen Risikogebiet fröhlich zurück ins Büro spazierte. Ich hab ihn vorher nicht gefragt und bin mir sicher, dass noch eine dementsprechende Aussprache bevorsteht. Meiner Tochter habe ich meine Bedenken mitgeteilt und wir treffen uns gemeinsam mit meiner kleinen Enkeltochter nur noch per Videotelefonie zum Reden und Lachen. Mein bester Freund wollte sich mit mir verabreden und ich habe ihm abgesagt. Im Moment habe ich nur einen einzigen Menschen in meiner Nähe, der meine Bedenken und Sorgen erträgt und mir ein wenig Normalität und Spaß in dieser verrrückte Zeit bringt. Tatsächlich habe auch ich mir jetzt das erste Mal in der Apotheke Desinfektionsmittel besorgt. Allerdings nicht mehr aus Angst um mich, sondern um diesen Menschen, der gerade für mich da ist, zu schützen.

Nun lag ich heute früh im Bett und ließ mich vom friedlichen Singen der Vögel berühren. Es ist still geworden. Überall. Auch in mir drin haben sich die Wogen wieder geglättet. Die Welt scheint stillzustehen. Sie wurde auf Null gesetzt. Doch genau dieses Innehalten lässt mich wieder atmen und zur Ruhe kommen. Vielleicht fühle ich mich der Situation immer noch etwas ohnmächtig und hilflos ausgeliefert. Aber sie macht mir keine Angst mehr. Sie zeigt mir eigentlich nur erneut, dass wir das Leben weder kontrollieren noch lenken können, egal, wie sehr wir uns bemühen.

Und wenn wir dessen natürlichen Lauf und Sinn durch zu viel Unsinn ignorieren oder vergessen, wird sich dieses Leben in Erinnerung bringen…

… wenn auch, wie jetzt, auf radikale Art und Weise.

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