Du glaubst, du kennst mich. Du warst dir bisher sicher, mich immer so zu sehen, wie ich bin. Es stimmt, du kennst mich wirklich schon lange und wir reden so unwahrscheinlich viel über das, was uns Freude bereitet, was uns traurig macht und darüber, wie wir das Leben sehen. Aber wir sind meistens allein dabei.
Nun hast du mich aber gesehen und erlebt, warst dabei, als ich Zeit mit anderen Menschen verbrachte und du warst ein wenig erschrocken. Du sagtest so etwas in der Art wie: „Du bist anders.“ und „Du bist so abweisend, als wolltest du niemanden an dich heranlassen.“ Was hat dich irritiert? War ich zu laut, zu frech oder auch viel zu fröhlich? Dann hast du richtig gesehen, denn genauso ist es!
Weißt du, da draußen reden sie ständig davon, dass wir keine Mauern um uns bauen sollen, dass wir offen, ehrlich und voller Vertrauen anderen begegnen und uns zeigen sollten. Glaube mir, ich habe es versucht. Mehrmals. Eigentlich viel zu oft. Es ist Blödsinn und funktioniert nicht!
Da waren so einige dieser Menschen, die mir sagten, dass ich sein kann, wie ich wirklich bin, mit meinen schönen aber auch mit meinen eigenartigen Seiten. Sie sagten auch, dass sie mit all dem, was ich hinter Schloss und Riegel hielt, behutsam, respektvoll und liebevoll umgehen würden. Sie haben Stein für Stein abgebaut und dabei versprochen, dass sie auf das, was sie dahinter finden werden, sehr gut aufpassen würden. Aber nichts davon haben sie getan.
Jedes Mal, wenn ich schutzlos dastehe, bin ich nicht nur offen für den Anderen, sondern auch aus mir fließt alles raus, was bisher gut von mir behütet wurde. Da sind unbändige Lebensfreude, verrückte Gedanken, so wahnsinnig viel Gefühl, Liebe, Vertrauen und Ehrlichkeit. Alles das lasse ich den Anderen mit voller Wucht spüren, hören und sehen. Doch früher oder später, dann wenn ich alles von mir gegeben hatte, jeden Gedanken, jedes Wort, jedes Gefühl und auch jede Berührung, haben sie erbarmungslos danach getreten. Es hat jedesmal so weh getan. Und wenn ich vor Schmerzen am Boden lag, haben sie sich umgedreht und sind gegangen. Sie schauten nicht einmal mehr zurück, sondern ließen mich mit meinen Wunden allein. Ihre Worte waren nichts mehr wert und mein Raum, in welchen ich sie hinein gelassen hatte, war komplett zerstört und ausgebrannt. Es dauerte jedesmal so verdammt lange, ihn wieder herzurichten. Und du wunderst dich, warum ich ihn wieder durch ein Gemäuer schütze?
Wir spielen alle unsere Rolle hier in diesem Film des Lebens. Und was du nun von mir gesehen hast, war eine meiner vielen Rollen. Sie dient dem Selbstschutz, ist ein Überlebensmechanismus, der sich verselbstständigt hat. Ich habe keinen Einfluss darauf. Dieser Schutz setzt mittlerweile automatisch ein, wenn Nähe droht.
Du glaubst, du kennst mich. Ja, ich habe für dich schon längst einen Großteil der Mauer abgetragen. Du durftest bereits sehr weit in meinen Raum hineinsehen und etwas habe ich für dich schon herausgelassen… das Vertrauen. Wäre es anders, hätte dir gar nicht auffallen können, was dir nun aufgefallen ist. Aber selbst für dich kann ich nicht alle Steine von mir stoßen. Nein, ich weiß nicht, ob ich dich jemals diesen Ort in mir ganz betreten lassen werde. Denn ich will dich nicht auch verlieren. Will nicht, dass auch du gehst, ohne zurückzuschauen, nur weil du vielleicht mit dem, was du siehst, hörst oder fühlst, nicht umgehen kannst, es nicht verstehst. Ich möchte nicht, dass ausgerechnet du mir genauso weh tust.
Deshalb schütze ich mich selbst und all das, was mich immer noch ausmacht.
Und manchmal schütze ich mich damit auch vor dir…
… genauso wie du dich wahrscheinlich vor mir schützt.